Seufz. Nach zwei Jahren Pandemie scheint das Thema des aktuellen Heftes naheliegend: Melancholie. Es bedrücken nicht nur die Toten und das Festhalten an Impfpatenten und den Privatisierungen des Gesundheitssystems. Auch der Zustand der Linken ist kein Quell der Freude. Aber die gepflegte Schwermut hat selbstverständlich ihre präpandemische Tradition im linken Diskurs, wurde auch in der Kunst lange mit dem Genie-Kult verknüpft und, das lässt aus aller Niedergeschlagenheit zumindest kurz aufblicken, die Melancholie hat ihre Feindinnen und Feinde! Jacques Rancière, der Philosoph, ist so einer, er hasst die „Melancholie von links“,... mehr
Seufz. Nach zwei Jahren Pandemie scheint das Thema des aktuellen Heftes naheliegend: Melancholie. Es bedrücken nicht nur die Toten und das Festhalten an Impfpatenten und den Privatisierungen des Gesundheitssystems. Auch der Zustand der Linken ist kein Quell der Freude. Aber die gepflegte Schwermut hat selbstverständlich ihre präpandemische Tradition im linken Diskurs, wurde auch in der Kunst lange mit dem Genie-Kult verknüpft und, das lässt aus aller Niedergeschlagenheit zumindest kurz aufblicken, die Melancholie hat ihre Feindinnen und Feinde! Jacques Rancière, der Philosoph, ist so einer, er hasst die „Melancholie von links“, die immer nur die Stabilität der jeweils gegenwärtigen Herrschaftsverhältnisse konstatieren könne, sich aber in Wirklichkeit bloß in der eigenen Machtlosigkeit suhle. Auch die Sozialtheoretikerin McKenzie Wark hält das Festhalten an dem Glauben, dass der Kapitalismus ewig sei, für eine melancholische Marotte, die es abzustellen gelte. Es gibt aber auch Verteidiger*innen einer linken Melancholie: Der Historiker Enzo Traverso etwa meint mit Judith Butler, die Melancholie angesichts der vielen historischen Niederlagen der Linken könne auch als ein „Prozess gesehen werden, der multiple Möglichkeiten eröffnet, Erholung und Handlungsfähigkeit (empowerment) eingeschlossen“. Traversos Buch Linke Melancholie (2019) ist vielleicht eine der entscheidenden Anstöße für diese Schwerpunktausgabe gewesen. Für eine Art von Dialektik der Niedergeschlagenheit hatte aber schon der Soziologe Wolf Leppenies plädiert, der die Melancholie in Melancholie und Gesellschaft (1969) als das Andere der Ordnung beschreibt. Ein „Melancholie-Verbot“ (Leppenies) ist in diesem Sinne eher Ausdruck von Verhaltensmaßregeln und totalitären Gelüsten. Das wäre auch ihren Feind*innen entgegenzuhalten, dass nämlich im Melancholischen auch etwas Nichtkonformes liegt und dass in der Passivität als Nicht-Beteiligung an einer ungeliebten (ausbeuterischen, diskriminierenden) Ordnung eine Kraft stecken kann. „So viele Sekunden hat mein Tag nicht/ die ich bräuchte, um mein ‚Nein‘ zu sagen/ Meine Neine. Nein, nein, nein“ singt Peter Licht auf seiner ebenfalls Melancholie und Gesellschaft (2008) betitelten Platte.
Vielleicht lässt sich die Melancholie also auch politisch-strategisch begreifen. Susan Sontag hatte den Melancholiker*innen in diesem Sinne bereits drei interessante Charakteristika zugeschrieben: Bedächtigkeit, Scheitern (etwas zu verfehlen) und Beharrlichkeit.
Wie üblich an den Schnittstellen zwischen emanzipatorischem Aktivismus, Kunstpraxis und Theorie agierend, versucht diese Ausgabe des Bildpunkt die Potenziale der Melancholie zu erörtern. Die Grenzen zu verwandten Begriffen und Konzepten wie etwa Sehnsucht, Trauer, Depression oder Nostalgie verlaufen dabei häufig fließend. Ein Grund für Frustration, noch so ein Wort, muss das nicht sein. Inwiefern allerdings die Rückkehr des Krieges nach Europa durch den Angriff der russischen Armee auf die Ukraine all diese Begriffe wieder mit traurigem Leben füllen wird, konnte in diesem Heft nicht mehr diskutiert werden.
Jens Kastner, koordinierender Redakteur
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