Vor einigen Jahren wurde meine Stelle an der Akademie der bildenden Künste von „wissenschaftlicher Mitarbeiter“ zu „Senior Lecturer“ umbenannt. Ohne dass sich an vertraglichen Pflichten, dem Einkommen und meinen freiwilligen Tätigkeiten irgendetwas geändert hätte, wurde ich, damals noch keine 40, nominell von einem Tag auf den anderen vom wissenschaftlichen Nachwuchs zum alten Eisen gemacht. Auch Senior Artist ist eine solche Berufsbezeichnung, die sowohl Erfahrung und Weisheit des Alters symbolisiert, zugleich aber auch ein Arriviertsein und eine Lebensphase kurz vor dem Ruhestand suggeriert, mit denen sich vermutlich die... mehr
Vor einigen Jahren wurde meine Stelle an der Akademie der bildenden Künste von „wissenschaftlicher Mitarbeiter“ zu „Senior Lecturer“ umbenannt. Ohne dass sich an vertraglichen Pflichten, dem Einkommen und meinen freiwilligen Tätigkeiten irgendetwas geändert hätte, wurde ich, damals noch keine 40, nominell von einem Tag auf den anderen vom wissenschaftlichen Nachwuchs zum alten Eisen gemacht. Auch Senior Artist ist eine solche Berufsbezeichnung, die sowohl Erfahrung und Weisheit des Alters symbolisiert, zugleich aber auch ein Arriviertsein und eine Lebensphase kurz vor dem Ruhestand suggeriert, mit denen sich vermutlich die wenigsten Stelleninhaber*innen identifizieren können. Denn die Sache mit dem Altern im Kunstfeld ist heikel: Der Zuwachs an Erfahrung und die Akkumulation verpasster Chancen gehen hier Hand in Hand. Zugleich geht das bestenfalls gesteigerte Einkommen mit körperlichem Verfall einher, auch Kunstmachen wird anstrengender. Für die bildende Kunst ist die Vergänglichkeit schon lange ein wichtiges Thema, eher als memento mori denn als Feier von Reife und Weisheit. Aber werden die Finger in die offenen Wunden des Alters gelegt oder werden die Falten eher weggebotoxt?
Das dem Neuen verpflichtete Gehabe, das für den Aufstieg (oder auch nur für das Bestehen) im Kunstfeld unabdingbar ist, gelingt den Jungen naturgemäß besser. Auch wenn hier nicht anders als anderswo eine Dominanz alter weiße Männer besteht, kann das Kunstfeld strukturgemäß keine Gerontokratie sein. Pierre Bourdieu spricht sogar vom „Vorrang, den das Feld der kulturellen Produktion der Jugend einräumt“, weil Alter mit Verbürgerlichung gleichgesetzt würde. Aber um das
„soziale Prestige“ zu erlangen, das die Kunstsoziologin Hanna Deinhard schon vor mehr als fünfzig Jahren als Kernbestandteil künstlerischen Erfolges erkannt hatte, braucht es wiederum bestimmte Stationen in der Laufbahn, die ohne Älterwerden nicht zu haben sind.
Es sind Prozesse ungeheurer Bewertungsnuancen, die zwischen „noch zu jung“ und „schon zu alt“, zwischen „nicht ernstzunehmen“ und „zu spät dran“ unterscheiden. Es sind kaum durchschaubare – aber immer auch sexistische, klassistische, rassistische – feldspezifische Kriterien, die die Männer noch kurz vor der Weißhaarigkeit und die Frauen erst knapp vor dem 100sten Geburtstag mit Ehrungen überschütten. Frauen sind nicht nur im Kunstfeld der Altersarmut wesentlich häufiger ausgesetzt als Männer, auch Filmrollen bekommen ältere Schauspielerinnen weniger leicht als ihre männlichen Kollegen. Altern bringt also multiple Diskriminierungen mit sich. Das wird auch im globalen Maßstab immer relevanter werden: Die Anzahl der über 60jährigen wird sich weltweit bis ins Jahr 2050 auf zwei Milliarden verdoppeln. Die gealterte Redaktion versammelt in diesem Bildpunkt Texte zur Kritik des Alter(n)s, die zwischen Kunstpraxis, Theorie und Aktivismus übers Erzählen von glorreichen Vergangenheiten weit hinausgehen.
Künftig wird nach jeweils drei regulären Bildpunkt-Ausgaben ein vom Vorstand der IG Bildende Kunst (unabhängig von der Bildpunkt-Redaktion) erstelltes Bildpunkt-Chronicle erscheinen.
Jens Kastner, koordinierender Redakteur
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