Das gute Leben wird im Wesentlichen in drei verschiedenen Diskursen verhandelt. Auf dem deutschsprachigen Buchmarkt eindeutig vorherrschend sind Ratgeber, die zum individuellen Glück trotz langweiliger Berufe verhelfen sollen und zwar meist mit der richtigen, nämlich positiven Lebenseinstellung und/ oder mit Hilfe simpler Rezepte im nicht übertragenen Sinne, beispielsweise fürs Grillen. Dann gibt es noch den moralphilosophischen Diskurs, der mit dem guten Tun im Zentrum auch irgendwie an die Frage gelingender, individueller Praxis anknüpft, auch wenn etwa Martha C. Nussbaum sich nicht mit Grillrezepten abgibt. Der dritte, im... mehr
Das gute Leben wird im Wesentlichen in drei verschiedenen Diskursen verhandelt. Auf dem deutschsprachigen Buchmarkt eindeutig vorherrschend sind Ratgeber, die zum individuellen Glück trotz langweiliger Berufe verhelfen sollen und zwar meist mit der richtigen, nämlich positiven Lebenseinstellung und/ oder mit Hilfe simpler Rezepte im nicht übertragenen Sinne, beispielsweise fürs Grillen. Dann gibt es noch den moralphilosophischen Diskurs, der mit dem guten Tun im Zentrum auch irgendwie an die Frage gelingender, individueller Praxis anknüpft, auch wenn etwa Martha C. Nussbaum sich nicht mit Grillrezepten abgibt. Der dritte, im deutschen Sprachraum kaum präsente Diskurs um das gute Leben ist in Lateinamerika relativ breit diskutiert: Mit den Debatten um das Buen Vivir, das gute Leben, wird das Gemeinwohl adressiert und der Zusammenhang zwischen alltäglichen Bedürfnissen, kollektiven Praktiken sozialer Bewegungen und institutionellen Settings diskutiert, in denen eine gerechte soziale Ordnung auf den Weg gebracht werden kann. Vor allem diesem dritten Diskurs zum guten Leben widmet sich diese Ausgabe des Bildpunkt an den Schnittstellen von Kunstpraxis, emanzipatorischem Aktivismus und Theorie.
Klar ist, dass ein gutes Leben für alle starke Regulierungen und Einschränkungen für einige wenige zur Voraussetzung haben muss. Laut einem aktuellen Bericht der Entwicklungsorganisation Oxfam verursacht ein einziger Milliardär so viel Treibhausgase wie 1 Millionen Menschen aus den 90 Prozent der weltweit ärmsten Bevölke
rungsgruppen zusammen. Frankreichs 125 Milliardäre verursachen 393 Millionen Tonnen an Treibhausgasen, in etwa so viel wie alle Einwohner*innen Frankreichs gemeinsam. Die Frage nach dem ökologischen Überleben ist also auch eine Klassenfrage. Allerdings haben die 99 Prozent, die die Occupy Wall Street-Bewegung adressierte und beschwor, dermaßen divergierende, partikulare Konsum-, Partizipations- und Aufstiegsinteressen, dass das gemeinsame Interesse am Erhalt der Welt ganz offensichtlich kaum ins Gewicht fällt. Die Klimakatastrophe ist in vollem Gange, umso dringlicher ist die Suche nach alternativen Konzepten zum kapitalistischen Akkumulations- und Wachstumsmodell.
Als das Auktionshaus Christie’s im November 2022 die Kunstsammlung des Microsoft-Mitbegründers Paul Allen versteigerte, wurde abermals bejubelt, was für eine tolle Investition die Kunst gerade angesichts der hohen Inflationsraten sei. So stellt sich stets auch die Frage, welche Rolle Kunstpraktiken jenseits ihrer Reduktion auf das Herstellen von schönen Anti-Inflationsbollwerken im gesellschaftlichen Ganzen spielen können. Ausgehend von den Diskursen und Praktiken, die in Lateinamerika um das Buen Vivir entwickelt und gelebt wurden und werden, soll dieses Heft ein wenig zur Diskussion dieser Frage beitragen.
Jens Kastner, koordinierender Redakteur
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