Was ist eigentlich Buen Vivir

Als Transformationshorizont aus Lateinamerika hat Buen ­Vivir, auf Deutsch das erfüllte Leben, im Verlauf des letzten Jahrzehnts viele Debatten und soziale Bewegungen rund um die Welt inspiriert. Vor allem seine Aufnahme als Leitprinzip in die neuen Verfassungen von Ecuador und Bolivien in den Jahren 2008 und 2009, im Kontext der progressiven Regierungen von Rafael Correa und Evo Morales, erregte Aufsehen und machte es zu einem Konzept, das fortan auch Gegenstand akademischer Debatten war. Es versprach in den Augen vieler eine Antwort auf eine multidimensionale, ja zivilisatorische Krise und bot einen gemeinsamen Bezugspunkt jenseits des westlichen Entwicklungsparadigmas. Dieses war in den Augen vieler zum Rechtfertigungsinstrument einer Politik der Naturzerstörung und Enteignung durch Bergbau und Ölförderung geworden.

Ursprünglich ist Buen Vivir ein Verständnis von Lebensqualität, das sich aus der Lebensweise und den überlieferten Wissensformen der Indigenen ableitet. Es existiert in einer gewissen Bandbreite von Variationen bei den allermeisten indigenen Gesellschaften, nicht nur in Amerika. Insofern handelt es sich weniger um ein theoretisches Konzept als um eine Alltagspraxis und Lebensweise, die in Lateinamerika erst relativ spät, ab den 1990er Jahren, theorisiert wurde. Da es sich bei den Indigenen zum Großteil um orale Kulturen handelt, deren soziale Basis die comunidad ist – die Dorfgemeinschaft, oft gleichbedeutend mit der erweiterten Familie –, basiert Buen Vivir auf einer Reihe von Prinzipien für das Zusammenleben, die dem jeweiligen Kontext angepasst werden. Es sind diese Prinzipien, die in ihrer letzten Konsequenz unvereinbar sind mit der Idee einer linearen, unbegrenzten Verbesserung der Lebensbedingungen und damit mit dem Versprechen von Entwicklung, das der Kapitalismus seit dem Zweiten Weltkrieg im Zusammenhang mit Wirtschaftswachstum formulierte – mit den bekannten ökologischen Folgen. Insofern ist Buen Vivir auch keine antikapitalistische Ideologie, sondern erweist sich eher in der Praxis als dysfunktional für die kapitalistische Lebensweise und das damit verbundenen Weltverständnis. Viele indigene Gesellschaften haben in ihrer Sprache gar kein Wort für Entwicklung.

Aus der Perspektive von Buen Vivir basiert ein gutes, gelungenes Leben nicht auf unbegrenzter materieller Akkumulation, sondern auf ausgewogenen, dauerhaften Beziehungen auf der Grundlage von Gegenseitigkeit, sowohl mit den Mitmenschen als auch mit der Umwelt. Menschen sind anderen Lebensformen nicht übergeordnet, sie sollen sich die Erde nicht Untertan machen wie im christlich-abendländischen Weltbild, sondern sie sind lediglich ein Element im großen Gefüge des Lebens, das von anderen Lebensformen abhängig ist. Insofern sind auch die gesellschaftlichen Naturbeziehungen von Gegenseitigkeit geprägt und aktiv darauf ausgerichtet, das Gleichgewicht der Ökosysteme in der jeweiligen Umgebung zu erhalten. Anstelle des Menschenbilds des kapitalistischen homo oeconomicus, der immer rational am eigenen Vorteil, an Rentabilität und Profit interessiert ist, basiert Buen Vivir auf einer Ontologie des kollektiven, gemeinschaftlichen
Seins. Anstatt die Welt, um sie verstehen und erklären zu können, in verschiedene, voneinander getrennte Spezialgebiete und Wissensdisziplinen zu segmentieren, wird das Augenmerk eher auf das Gefüge des Lebens als ein komplexes Ganzes und auf die es konstituierenden Beziehungen gelegt. Anstelle des Wettbewerbs unterstreicht Buen Vivir die Kooperation. Die Anhäufung von materiellem Reichtum oder auch von individueller Macht wird nicht als Ziel angestrebt, sondern vielmehr als Bedrohung für die comunidad betrachtet, da sie sie aus dem Gleichgewicht bringt. Die Gelegenheiten zu solch individueller Akkumulation werden im Idealfall durch Mechanismen der Umverteilung, Gegenseitigkeit und Rotation begrenzt.

In vielen indigenen Territorien gibt Buen Vivir dem Alltagsleben eine Richtung und wird von Generation zu Generation den Herausforderungen der Zeit angepasst – in manchen seit langer Zeit, in anderen durch eine bewusste kollektive Entscheidung, es wieder stärker zu machen. Es koexistiert in einem fluktuierenden Spannungsverhältnis mit westlichen, modern/kapitalistischen Werten und Lebensweisen.

Als schwierig erwies sich seine Umsetzung als Leitprinzip für die Politik auf der Grundlage der neuen Verfassungen, sowohl in Ecuador als auch in Bolivien. Die Eigendynamik der Institutionen des modernen/kolonialen Staates deuteten Buen Vivir schnell zu einem schlichten Synonym von Entwicklung um. Obwohl Buen Vivir im Grunde einen Gegenpol zu Entwicklung markiert, gewann im Kontext von peripheren Staaten, deren Apparate von ihrer inneren Logik, ihrer Funktionsweise und dem Bewusstsein ihrer Funktionär*innen her primär auf das Erreichen von Entwicklung ausgerichtet waren, diese als übergeordnetes Politikziel schnell wieder die Oberhand. Anstatt also den Staat durch die Priorität auf Buen Vivir zu entkolonisieren und auf andere Ziele auszurichten, beispielsweise durch andere Prioritäten in der Umweltpolitik, wurde Buen Vivir zum bloßen Slogan und die Regierungen begannen, eindeutig moderne, kapitalistische Artefakte wie Autobahnen und Kreditkarten danach zu benennen. Regierungsnahe Intellektuelle versuchten, Buen Vivir in den Dienst eines sozialistischen Ideals zu stellen, während Akademiker*innen sich bemühten, Indikatoren zu entwickeln, um seine Umsetzung quantifizieren und vergleichen zu können. All dies sind Versuche, ein radikal anderes Weltverständnis in die hegemoniale Episteme der westlichen Moderne einzuzwängen, in die große Erzählung vom linearen, unendlichen Fortschritt, in die sich auch die sozialistische Gegenerzählung des 19. und 20. Jahrhunderts einordnet.

Heute wird der spanische Begriff Buen Vivir von vielen Gruppen in Lateinamerika mit dieser verfehlten Regierungspolitik identifiziert, weshalb sie, um auf das transformatorische Paradigma Bezug zu nehmen, lieber die indigenen Begriffe wie sumak kawsay (kichwa) oder suma qamaña (aymara).


Miriam Lang ist Professorin dür Environment and Sustainability Studies an der Universidad Andina Simón Bolivar in Quito/Ecuador.