Diese Ausgabe steht, wie so vieles derzeit, ganz im Zeichen der von der Ausbreitung des Corona-Virus ausgelösten Krise. Planung und Realisierung fielen komplett in die Zeiten des Lockdown, der mit der Schließung von Museen, Galerien, Universitäten, Theatern, Kneipen u.v.a. nicht nur den Kulturbereich zum Erliegen gebracht hat, sondern auch den zwischen Zoom-Meetings und Homeschooling eingespannten Alltag der darin Beschäftigten radikal veränderte. Die Auswirkungen und Effekte, die dieser Ausnahmezustand haben wird, sind noch unabsehbar. Die Corona-Krise ist zweifellos das tiefgreifendste kollektive Ereignis seit dem Zweiten Weltkrieg, ein Ausnahmezustand par excellence.

Derjenige Intellektuelle, der sich in den letzten Jahrzehnten wohl am intensivsten mit einer expliziten „Theorie des Ausnahmezustands“ beschäftigt hat, ist der Philosoph Giorgio Agamben. Sein theoretischer Ansatz allerdings erwies sich als wenig hilfreich, um die real existierende Ausnahmesituation irgendwie angemessen zu beschreiben. In drei Artikeln, die in il manifesto und der Neuen Zürcher Zeitung veröffentlicht und breit diskutiert wurden, hatte der Philosoph sich zur Krise geäußert. Erst hatte er deren tödliche Dimension bagatellisiert, indem er von „hektischen, irrationalen und völlig unbegründeten Notstandsmaßnahmen“ sprach, dann war er zurückgerudert um sich schließlich im dritten Beitrag immer noch mit rhetorischer Naivität zu fragen, wie es soweit kommen konnte, dass angesichts einer Krankheit eine ganze Gesellschaft sich bereit zeige, „die normalen Lebensbedingungen zu suspendieren“. Dass an dem Tag, als dieser Text erschien, allein in den USA 2000 Menschen starben und es vielleicht mit dieser todesbringenden Dimension zu tun hat, dass Menschen sich anders verhalten als sonst, darauf kam Agamben nicht. Dass es um den Schutz der Schwächeren geht, dass Menschen auch zu solidarischen Praktiken gegenüber völlig Fremden schreiten, auch das gehört ja zu diesem Ausnahmezustand. Aber auch das sah Agamben nicht, weil es nicht in seine Theorie vom Ausnahmezustand passt. Sein Ausnahmezustand nämlich ist eine totalitäre Gefahr, „die vorübergehende Abschaffung der Unterscheidung zwischen Legislative, Exekutive und Jurisdiktion“, die sich angeblich bereits 2003, als Agambens Buch Ausnahmezustand (Dt. 2004) erschien, in „eine ständige Praxis des Regierens“ verwandelt hatte.

Es steht wohl außer Frage, dass die Einschränkungen der Bewegungs- und Versammlungsfreiheit bedenklich sind und dass sie Polizeiwillkür ebenso wie Blockwartmentalitäten gefördert haben. Und trotzdem lässt sich das Verhalten vieler Menschen während der Corona-Krise nicht als Abstumpfungseffekt vormals reflektierter Bürger*innen beschreiben. Die Krise ist überhaupt nicht als diktatorisches top-down-Phänomen zu begreifen.

Wie denn sonst zu verstehen und einzuordnen ist, was in den letzten Wochen geschah und was derzeit geschieht, mit welchen Effekte zu rechnen ist und was das alles für die Kunst, für den emanzipatorischen Aktivismus und die Theorie bedeutet, das versucht diese Ausgabe des Bildpunkt mit auszuloten.

Jens Kastner, koordinierender Redakteur