Wir haben keine Angst mehr

Nach dem gewaltvollen Tod George Floyds durch einen Polizisten im US-Bundesstaat Minnesota am 25. Mai 2020 wurde es etwas ruhiger auf Michelle Elies Instagram Account. Für Elie, die sonst täglich durch Fotos und Stories rund 20.000 Follower erreicht, fühlte es sich nicht mehr ganz richtig an, nur noch Selfies und Videos von ihr in schönen Kleidern zu posten: „Temporary closed for spiritual maintenance“, kündigte sie eine Instagram-Pause an. Wenige Wochen zuvor hatte im Museum Angewandte Kunst in Frankfurt am Main eine Ausstellung eröffnet, die rund 50 Stücke ihrer Sammlung des japanischen Modelabels Comme des Garçons zeigt. Der Titel der Ausstellung, Life doesn’t frighten me, bekam durch den rassistisch motivierten Mord an George Floyd, der einmal mehr an die Kontinuität ähnlicher Vorfälle erinnerte, eine weitere aktuelle Bedeutungsebene: Wie sicher sind wir vor rassistischer Polizeigewalt? Die Corona-Pandemie hatte bereits zur Verschiebung der Eröffnung der Ausstellung, die für Anfang April geplant gewesen war, geführt. Die zahlreichen nationalen und internationalen Gäste, Elies zum Teil in den USA lebende Familie, die bereits ihre Flüge gebuchten hatte, um beim feierlichen Ereignis dabei sein zu können, mussten ihre Reisen absagen. Man hatte gemunkelt, dass sogar Rei Kawakubo selbst, die Designerin des japanischen Modelabels, kommen wollte. Kawakubo scheut sonst den Trubel. Sie hält sich gern im Hintergrund.

Der Titel der Ausstellung wurde geborgt von einem Gedicht Maya Angelous von 1978. Es gibt einige Hinweise, dass es sich bei diesem Gedicht nicht allein um die Schilderung eines furchtlosen Mädchens handelt, sondern um eine Form des Schwarzen In-der-Welt-Seins. An einer Stelle heißt es: I’ve got a magic charm / That I keep up my sleeve / I can walk the ocean floor / And never have to breathe / Life doesn’t frighten me at all. Keine Angst vorm Leben haben, weil wir das alte Wissen des Kontinents gegen alle Vernichtungsversuche wie einen Zauberspruch in uns tragen. Der „Ocean Floor“ als Metapher für Paul Gilroys Black Atlantic, der die Erfahrung des transatlantischen Sklavenhandels und der Versklavung Schwarzer Körper transformiert zu einer Theorie der ersten modernen Menschen – so könnte es Maya Angelou auch gemeint haben: „I can’t breathe“ als universale Schwarze Erfahrung. Doch wir können am Grund des Ozeans laufen und brauchen gar nicht zu atmen. Es geht um einen Glauben, der über alles hinaus weist. Es geht darum, Verantwortung zu übernehmen. Es geht darum, sich den zugewiesenen Raum anzueignen und zu gestalten.

Die japanische Designerin Rei Kawakubo gründete ihr Modelabel Comme des Garçons 1969. Bis heute geht es ihr mit ihren Designs nicht darum zu gefallen, sondern spielerisch und lustvoll den männlichen, durch westliche Schönheitsideale geprägten Blick zu stören. Konventionen der Schnittkunst bricht Kawakubo durch Dekonstruktion, Verschiebung, Zerstörung und Ausbuchtungen ohne Rücksicht auf Körperformen. Träger* innen eignen sich die Kleidobjekte an, bringen sie in ihren je eigenen Kontexten zum Leben, nicht ohne Aufsehen zu erregen. Comme des Garçons widerspricht der Norm, fällt auf und provoziert nicht selten. Man darf nicht besonders ängstlich sein, um Kawakubos Mode tragen zu können. Und besonders ängstlich ist Michelle Elie nicht. Nicht was Kawakubos Designs betrifft, nicht was das Leben betrifft. Doch Anfang Juni musste sie sich erstmal neu sortieren. Seitdem geht es deutlich politischer zu auf Elies Instagram Account. Neben den gewohnt selbstbewusst fröhlichen Beiträgen, postet sie immer wieder Statements wie „Nothing should go back to normal. Normal wasn’t working“ oder „If you’re tired of hearing about racism, imagine how tired some people are of experiencing it…“ In der September-Ausgabe der deutschen Vogue, die ebenso wie sämtliche Vogue-Ausgaben weltweit das Heft dem Thema „Hope“ widmete, steht unter Elies Bild „Hoffen ist gut, etwas tun besser.“

Als ich im Frühjahr 2019 begann, gemeinsam mit Michelle Elie diese Ausstellung zu erarbeiten, war klar, dass sie politisch werden würde. Es war selbstverständlich, dass die Puppen, die Elies Kleidung präsentierten, schwarze sein würden. Nicht nur um zu verdeutlichen, dass es bei der Ausstellung vor allem um Michelle Elie und ihr Verhältnis zu Comme des Garçons geht und weniger um die alleinige Präsentation eines Modelabels, sondern auch darum, zur Entstehung neuer Selbstverständlichkeiten beizutragen. Das Ausmaß konnte uns während der Planungen nicht klar sein.

Michelle Elie wurde in Haiti geboren und wanderte mit ihren Eltern als Kind in die USA aus. In New York studierte sie in den 1990er Jahren Design und jobbte als Model, nicht ganz so erfolgreich, wie sie es sich gewünscht hätte. Ihre Körperform und Hautfarbe entsprach nicht den gewünschten Standards. In The New Black Vanguard, einem im vergangenen Jahr erschienenen, umfangreichen Fotobuch, welches junge, selbstbewusste Schwarze Modefotografie vorstellt, schreibt Antwaun Sargent Folgendes: „The classic group shot of the 1990s is of a lone black model amongst five or six of her white peers […]. In the image, she is seemingly out of place, staged as if she is a prop.“ The New Black Vanguard gehen heute andere Wege. Fotografen wie Tyler Mitchell, Ruth Ossai, Stephen Tayo oder Nadine Ijewere zeigen Schwarze Körper aus bewusster Schwarzer Perspektive und fordern den „White Gaze“ heraus.

In der Ausstellung im Museum Angewandte Kunst in Frankfurt erzählt Michelle Elie, wie sie in der Umkleidekabine einer New Yorker Boutique in den 1990er Jahren daran scheitert, ein kompliziertes Kleid der „Body meets Dress Dress meets Body“- Kollektion von Comme des Garçons anzuprobieren. Es ist ihr unangenehm, um Hilfe zu bitten und damit zuzugeben, dass sie mit dem kunstvollen Avantgarde-Kleid nicht zurechtkomm. Zugleich ist sie fasziniert von der Ungehörigkeit Kawakubos, einfach all jene Stellen auszupolstern und damit zu betonen die eben gerade nicht gängigen Schönheitsidealen schmeicheln: Breite Hüften, Buckel, Wülste an Stellen, die die meisten eher kaschieren möchten. Jene Stellen auch, die es Michelle auf den Castings besonders schwer machen. Kawakubo hat bis heute kein Interesse daran, den Menschen dabei zu helfen, herrschenden Standards zu entsprechen. Vielmehr bricht sie bewusst mit Model-Idealen, indem sie die Vorstellung des perfekten Modellkörpers dekonstruiert. Sie arbeitet sich an ihm ab und trifft damit bei Elie einen wunden Punkt. Immer ein bisschen zu klein, immer ein bisschen zu rund, immer zu Schwarz, kann sie nun über das japanische Modelabel zu einem versöhnlichen Körperselbstverständnis finden.

Es ist dieses Erwachen aus der Objektivierung, die auch Natasha A. Kelly in ihrer multimedialen Arbeit Millis Erwachen beschreibt. Der Expressionist Ernst Ludwig Kirchner malte 1911 ein Bild, das heute unter dem Titel Schlafende Milli in der Kunsthalle in Bremen hängt. Es zeigt eine Schwarze Frau, die nicht nur Modell Kirchners war, sondern später kunsthistorisch auch als Objekt Kirchners Sexualphantasien analysiert wurde. Die Person Milli selbst war dabei kaum von Interesse. Die in Berlin lebende Kommunikationswissenschaftlerin Kelly begab sich 2016 auf die Suche. Schwarze Körper finden sich durch die Kunstgeschichte hindurch in vielen Gemälden auf unterschiedliche Weisen. Am häufigsten sind sie Objekt, Staffage, ikonographischer Kunstgriff. Kelly lässt in ihrer Arbeit, die aus der Auseinandersetzung mit diesem Phänomen entstand, die schlafende Milli erwachen. Sie sprach mit acht Schwarzen, in Deutschland lebenden, Künstlerinnen. Ihre Geschichten sind Zeugnis für die Überwindung kolonialtradierter Stereotype. Sie erzählen, wie sie zu ihrer eigenen Identität als Schwarze Frauen innerhalb weißer Mehrheitsgesellschaften fanden.

Elie hängt das komplizierte Kleid in New York zunächst zurück an die Stange. Doch es mag ihr nicht aus dem Kopf gehen. Rei Kawakubo hat in ihr etwas angestoßen. Sie ist fasziniert und vielleicht markiert genau diese Erfahrung den Beginn ihrer Sammelleidenschaft. Ein paar Monate nach der Umkleidekabinenerfahrung gelingt es ihr in Köln, das in New York nicht erstandene Kleid zu kaufen. Sie trägt es dann später zu einem Shooting, als sie mit ihrem ersten Sohn schwanger ist. Auch das erzählt sie in der Ausstellung. Wie das Kleid auf ihrer Haut ihre körperliche Transformation spiegelte. Unverblümt spricht Elie auch darüber, dass das Erlebnis des sich verändernden schwangeren Körpers nicht ausschließlich ein Schönes ist. In Köln findet sie ihre neue Heimat. Bis heute lebt sie dort mit Mann und Familie und ihren „Girls“, wie sie die Objekte ihrer Sammlung liebevoll nennt. Die Girls sind aber nicht nur Sammlungsgut, sondern auch Kleidung für Elie. Die ganz besonderen Stücke trägt sie in Paris zur Fashion Week, die sie regelmäßig besucht und zu der sie bereits als Streetstyle-Ikone als Institution zählt. Die alltagstauglicheren Stücke trägt sie auch in Köln. Alltaugstauglich ist dabei relativ zu verstehen. Das bedeutet lediglich, dass ihr die Stücke ermöglichen, alle Körperteile frei zu nutzen und z.B. Auto zu fahren. Denn das erlauben nicht alle Teile. Ein Highlight der Sammlung ist ein weißes Kleid, das wie eine Kreuzung aus einer Bettdecke und einer Wolke aussieht. In der Ausstellung in Frankfurt ist ein Video zu sehen, das Elie in Paris zeigt, wie sie, während sie es trägt, von einem jungen Mann betreut wird. Er trägt ihr Handy, drückt sie durch Türen und stopft sie in Taxis. Auf der Modenschau, die sie besucht, werden ihr zwei Stühle bereitgestellt.

Im Frankfurter Museum stehen nun 50 Puppen, die alle so aussehen wie Michelle Elie. Die Köpfe wurden nach einem 3D Scan geformt und samt Körper in einem sehr dunklen Braunton bemalt. Es stehen 50 Schwarze Frauen in sehr besonderen Kleidern im Museum, besetzen einen weißen institutionellen Raum und es ist einerseits auffälliger, als ich als Kuratorin der Ausstellung und Michelle als Sammlerin es erwartet hatten. Auffälliger sicher auch für Besucher*innen mit einem Blick, der durch aktuelle politische Ereignisse besonders geschärft ist. Eine Schwarze Sammlerin, eine Schwarze Kuratorin, die eine Geschichte aus Schwarzer Perspektive erzählen und das mit einer Selbstverständlichkeit tun, dass die Besonderheit dessen andererseits überhaupt nicht mehr auffällt.


Mahret Ifeoma Kupka ist Kunstwissenschaftlerin, freie Autorin und seit 2013 Kuratorin fur Mode, Körper und Performatives am Museum Angewandte Kunst in Frankfurt am Main.