Bildpunkt: Inge Honisch, Sie beraten Frauen, die Schulden haben. Sind Frauen anders betroffen oder stärker gefährdet, wenn es um Schulden geht? Warum ist ein feministischer Fokus auf Schulden wichtig?
I.H.: Frauen sind in spezifischen Situationen gefährdeter als Männer, in die Schuldenfalle zu geraten. Banken drängen Frauen immer noch dazu, Mithaftungen oder Bürgschaften für ihre Partner zu unterschreiben. Der psychische Druck in der konkreten Situation in der Bank ist groß. Damit teilen Frauen das finanzielle Risiko, aber profitieren in der Regel nicht davon. Ein weitere Verschuldungsursache bei Frauen ist die finanziell angespannte Situation von alleinerziehenden Müttern, in der im Schuldenmachen oft der einzige Ausweg gesucht wird. Aus feministischer Sicht ist es daher unumgänglich, dass Frauen in der Wirtschaft und am Arbeitsmarkt dieselben Voraussetzungen erhalten wie Männer und Kinderbetreuung kostenfrei ermöglicht wird.
Bildpunkt: Sofia Bempeza, in ihrem Buch Geschichte(n) des Kunststreiks (tranversal texts 2019) beschäftigen Sie sich u.a. auch mit dem „Schuldenstreik“. Sie gehen dabei von der These aus, dass die „Verschuldung als Verstärker im Soundsystem der neoliberalen Regierungskunst zu verstehen“ sei. Wie ist das gemeint?
S.B.: Aus heutiger Perspektive ist die Verschuldung die logische Konsequenz der Ökonomisierung der bürgerlichen Gesellschaft, in der jedes individualisierte Subjekt potenziell als Debitor*in gilt. Nach Maurizio Lazzarato ist diese Figur des verschuldeten Menschen das fabrizierte Ergebnis einer avancierten Regierungstechnik der sozialen Kontrolle. Ich meine wiederum, dass verschuldete Individuen jedoch in der Lage sind, das (ethische) Schuldverhältnis jenseits der vorherrschenden Weisungen der Finanz- und Schuldenökonomie zu deuten. Wenn wir uns die neoliberale Regierungstechnik als regulatorisches Macht- bzw. Soundsystem vorstellen, dann verstehe ich den Schuldenstreik darin als Dissonanz.
Bildpunkt: Seit Jahrzehnten wird von neoliberal-konservativer Seite aus gegen die Staatsverschuldung argumentiert und polemisiert. Zugleich nimmt die Bedeutung privater Schulden zu, sie ist inzwischen häufig zur Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe und, denkt man an die Kredite zur Finanzierung des Studiums, auch für sozialen Aufstieg geworden. Wie interpretiert Ihr diese Tendenzen?
S.B.: Zunächst würde ich den Unterschied zwischen corporate debt oder profit debt (Schulden von Banken und Großfirmen) und dem household debt oder use-value debt, also den Schulden der Kleinbäuer*innen, Kleinunternehmer*innen, Student*innen markieren. Insbesondere im Bildungsbereich, wie es sich z.B. in der starken Ökonomisierung des Studiums in den USA seit ca. 2012 bemerkbar macht, verschulden sich immer mehr Studierende durch Kreditaufnahme schon am Anfang ihres Studiums. Diese kumulative Verschuldung liegt einerseits an den hohen Habenzinsen (credit interests) und andererseits an der Erhöhung der Studiengebühren. Dabei gilt die Universität als ein Unternehmen, in dem Studierende wie Lehrende vorwiegend nach betriebswirtschaftlichen Werten (z.B. der Logik von oneself invest in oneself) agieren sollen.
I.H.: Zentrale Aufgabe des Staates ist es, die soziale Teilhabe an Bildung der Bevölkerung zu ermöglichen. Für ein gesichertes Leben ist neben leistbarem Wohnraum auch Bildungsgerechtigkeit von existentieller Bedeutung. Die Finanzierung eines Studiums darf nicht in Form von persönlichen Krediten auf das Individuum abgewälzt werden. Verschuldung für Bildung schafft langfristige Abhängigkeiten und führt zur Beschränkung der individuellen Freiheit. Sozialer Aufstieg darf nicht von finanziellen Möglichkeiten abhängig sein.
Bildpunkt: Schulden machen abhängig – nicht nur direkt von den Gläubiger*innen, sondern auch indirekt in dem Sinne, dass Schulden tendenziell mehr Schulden und, damit verknüpft, einen Zuwachs an Schuldgefühlen hervorbringen. Sie machen verletzlich und produzieren Scham, gegen die oft auch die vehementeste Kapitalismuskritik nichts ausrichten kann. Wie lässt sich dem aus feministisch-emanzipatorischer Perspektive begegnen?
I.H.: Menschen mit Schulden erfahren einschneidende Diskriminierung in der Gesellschaft. In einer Zeit, in der versucht wird, Diskriminierung in allen denkbaren Bereichen zu verringern, schafft Verschuldung weiter Armut und Ausgrenzung. Der finanzielle Druck manifestiert sich in psychischen Erkrankungen und führt oft zu massiven Änderungen der Lebenssituationen (Scheidung, Arbeitsplatzverlust usw). Letztlich müssen sowohl der Kampf gegen Armut als Ursache von Verschuldung als auch der Kampf gegen Verschuldung als Ursache von Armut angegangen werden. Hier kann Finanzbildung einen wesentlichen Schritt dazu beitragen. Eine gute und abgesicherte Chance auf Bildung und gleicher und fairer Lohn für gleiche Arbeit sind immer noch die wichtigsten Forderungen. Nur die Möglichkeit von anständig bezahlten Vollzeitjobs verringert die Altersarmut und das Verschuldungsrisiko.
S.B.: Aus einer feministischen Perspektive können wir erkennen, dass Schuldenverhältnisse den sozialen Beziehungen immanent sind, weil Menschen sich nicht aus jeder Abhängigkeit komplett lösen können. Das Bild eines vermeintlich völlig autonomen Subjekts ist durch patriarchale und heteronormative Herrschaftsformen geprägt. Zugleich kommen wir nicht darum herum, die affektive Seite der Verschuldung ernst zu nehmen. Die Organisation Strike Debt Bay Area schreibt hierzu: „Als Einzelpersonen, Familien und Gemeinschaften ertrinken die meisten von uns in Schulden. Verschuldung hält uns isoliert, beschämt und ängstlich. Wir sind kein Kredit“.
Bildpunkt: Inwiefern könnt ihr theoretischen Ansätzen etwas abgewinnen, die Schulden selbst nicht nur Repressives nachgesagen, sondern auch emanzipatorisches Potential in ihnen sehen? „Schulden produzieren Interessen“, schreiben etwa Stefano Harney und Fred Moten in Die Undercommons optimistisch. Und die französische Philosophin Nathalie Sarthou-Lajus möchte Schulden als etwas verstanden wissen, was Menschen auch auf eine gemeinsame Zukunft hin miteinander verbindet.
S.B.: Die theoretische Perspektive, die Harney/Moten und Sarthou-Lajus eröffnen, ist eine Intervention in die ethische Dimension des Schuldner*innen-Gläubiger*innen-Verhältnisses, die heutzutage an Relevanz gewinnt. Die emanzipatorische Wiederaneignung der Identität des Verschuldeten erscheint mir dabei wichtig – insbesondere der Versuch, sich dem Zwang zur Selbstdisziplinierung angesichts der eigenen oder kollektiven Verschuldung entgegenzusetzen.
I.H.: Schulden sind ein diskriminierendes Hemmnis. Ich kann hier nichts Verbindendes erkennen. Verschuldung dient in erster Linie den Interessen der Gläubiger*innen und der Wirtschaft. Verschuldete Personen riskieren individuelle Freiheit und persönliche Zukunftsplanung. Geld wird verliehen, um Gewinne zu erzielen und nicht um emanzipatorisches Potential zu fördern. Solange sich Schulden bei Nichtbezahlung binnen 4 Jahren verdoppeln, wird die Abhängigkeit der Schuldner*innen von der Gläubiger*innen nur zementiert. Die Verzinsungsrealität steht jedem emanzipatorischen Potential entgegen. Schon lange fordern wir daher, dass die Zinsen das ursprüngliche Kapital nicht übersteigen dürfen.
Sofia Bempeza ist Künstlerin/Kunstwissenschaftlerin und lebt in Athen und Zürich.
Inge Honisch ist seit 25 Jahren Schuldenberaterin in Salzburg und seit 20 Jahren aktiv in der Armutsbekämpfung im Salzburger Netzwerk gegen Armut und soziale Ausgrenzung.
Das „Gespräch“ wurde im Oktober 2020 von Sophie Schasiepen und Jens Kastner per E-Mail geführt.