„Denkmäler sind keine Geschichtsbücher“

Interview mit Eduard Freudmann, Mischa Guttmann, Gin Müller, Simon Nagy, Anna Witt

Das Wort „Schande“ in grellen Farben bedeckt seit dem Sommer den Sockel des umstrittenen Karl-Lueger-Denkmals am Wiener Stubenring. Eine Künstler_innengruppe will die Entfernung der Schriftzüge verhindern. Statt der Wiederherstellung des Status Quo fordert sie eine grundlegende Umgestaltung des Ehrenmals für den ehemaligen Wiener Bürgermeister, der nicht nur für kommunale Großprojekte, sondern auch für aggressive antisemitische Propaganda bekannt ist. Bildpunkt sprach mit den Initiator_innen der „Schandwache“ am Lueger-Denkmal.

Ihr habt im Oktober eine „Schandwache“ vor dem Karl-Lueger-Denkmal am Wiener Stubenring abgehalten. Der Sockel der Statue war zu dieser Zeit mit einer Bauabsperrung eingezäunt, die mehrere „Schande“-Graffitis verdeckte, die dort im Juli angebracht wurden. Wie kam es zu eurer Intervention, wie seid ihr vorgegangen?

Die Stadt Wien hatte Mitte September mit der Aufstellung des Bauzauns angekündigt, die „Schande“-Schriftzüge bis zum Freitag vor der Wien-Wahl entfernen zu lassen. Das wollten wir verhindern und zugleich im Vorfeld der Wahl von den antretenden Parteien klare Bekenntnisse zu einer Umgestaltung einfordern. Am 3. Oktober wurde im Standard ein Aufruf veröffentlicht, der eine Veränderung an Platz und Ehrenmal forderte und der von 46 Persönlichkeiten aus Kultur und Wissenschaft unterzeichnet wurde. Am 5. Oktober startete die Schandwache, die von uns als Künstler_innengruppe initiiert und von einem Bündnis aus 16 antifaschistischen Organisationen bespielt wurde. Vertreter_innen folgender Organisationen standen abwechselnd vor dem Denkmal, um die Graffiti vor der Entfernung zu bewahren: Verein Gedenkdienst, Grüne & Alternative Student_innen, Frauen*volksbegehren, Hashomer Hatzair, Burschenschaft Hysteria, Jüdische Österreichische HochschülerInnenschaft, KZ-Verband, LINKS, Migrantifa Wien, Muslimische Jugend Österreich, Nesterval, ÖH der Akademie der bildendenden Künste, Queermuseum, Sodom Vienna, Sozialistische Jugend Wien und TFM-Archiv.

Eure Mahnwache wurde von Rechtsextremen angegriffen. Was ist passiert?

Die Eröffnung der Schandwache ging einher mit der Applikation zweier goldener Schriftzüge aus Beton, welche zwei „Schande“-Schriftzüge an der Vorderseite des Denkmals als Relief abbildeten. Wenige Stunden später tauchte eine Gruppe Rechtsextremer auf und schlug die goldenen Buchstaben mit Hammer und Meißel vom Denkmal. Es waren zwar zwei Polizisten vor Ort, sie ließen die Rechtsextremen aber gewähren, nahmen nicht einmal deren Personalien auf. Dieser Auftritt machte deutlich, wie sich der Diskurs um das Denkmal verschoben hat: Die ÖVP, Nachfolgepartei von Luegers Christlichsozialen, schweigt. Verteidigt wird das Denkmal von Rechtsextremen, die es seit einigen Jahren als Versammlungs- und Identifikationsort begreifen. Der FPÖ-Historiker Lothar Höbelt griff die Schandwache in der Presse an und sprach sich für die Beibehaltung des Status quo aus. Im Verlauf der Schandwache kam es wiederholt zu homophoben, rassistischen und antisemitischen Beschimpfungen, insbesondere gegenüber den sich beteiligenden jüdischen, queeren und muslimischen Aktivist*innen. In weitaus größerer Zahl aber kamen Passant*innen vorbei, um sich nach den Hintergründen der Schandwache zu erkundigen, in konstruktive Diskussionen einzutreten oder sich solidarisch zu zeigen, indem sie Getränke und Süßigkeiten vorbeibrachten. Diese Begegnungen ließen breite Zustimmung für die Forderung nach Veränderung an Platz und Ehrenmal erkennen.

Seit über 10 Jahren liegt ein Entwurf zur Umgestaltung des Lueger-Denkmals vor, der vorsieht, die Statue ein wenig zu kippen. Er wurde jedoch nie realisiert, lediglich eine Zusatztafel wurde angebracht. Bei den Black Lives Matter-Protesten werden Denkmäler gestürzt, die Rassisten ehren. Entfernung oder Umgestaltung? Oder welche anderen Umgangsweisen mit problematischen Denkmälern gibt es?

Wir fordern eine grundlegende Veränderung am Ehrenmal in Form einer Umgestaltung oder „Weggestaltung“ (Marlene Streeruwitz). Dabei muss die kritische und reflektierte Auseinandersetzung mit der Geschichte im Vordergrund stehen und unmissverständlich klar werden, dass Lueger keine Ehrung verdient. Solange diese Veränderung nicht umgesetzt ist, sollen die Schande-Graffiti als Markierung am Denkmal verbleiben. Sollte keine Weg-, sondern eine Umgestaltung des Denkmals entschieden werden, so muss diese eine mutige und zeitgemäße sein, welche den Schandfleck Lueger-Platz zu einem Ort der Verhandlung von Gewaltgeschichte macht.

Eine gängige Argumentation gegen die Entfernung von Denkmälern lautet, damit werde die Auseinandersetzung mit Geschichte verunmöglicht. Braucht es dazu Statuen?

Denkmäler sind keine Geschichtsbücher. Personendenkmäler dienen der Ehrung der dargestellten Person, nicht der Auseinandersetzung mit Geschichte. Das Karl-Lueger-Denkmal etwa inszeniert Lueger als heroischen Bürgermeister, verschweigt seinen rabiaten Antisemitismus und verfälscht damit Geschichte. Eine Umgestaltung des Denkmals, die von einem breit angelegten öffentlichen Dialog begleitet ist, kann weitaus mehr für eine Auseinandersetzung mit Geschichte leisten, als es jede Forderung nach Bewahrung je tun könnte.

Wie sollte der Platz, auf dem heute das Lueger-Denkmal steht, in Zukunft aussehen, beziehungsweise wie könnte öffentlicher Raum (um)gestaltet werden?

Wir sehen als Künstler*innengruppe seit Beginn des Projekts absichtlich davon ab, Vorschläge zur Umgestaltung zu machen. Es ist durchaus beeindruckend, wie kreativ wir Menschen in solchen Situationen werden. In den letzten Wochen haben wir viele konkrete Vorschläge gehört. Die einen diskutieren darüber vor Ort, die anderen meinen, ihre Ideen in Zeitungskommentaren platzieren zu müssen. Uns geht es aber darum, dass eine Grundsatzentscheidung getroffen werden muss: Umgestaltung oder Weggestaltung. Wegschauen geht jedenfalls nicht mehr. Sollte es zu einer Umgestaltung kommen, müsste sie künstlerisch ausgeschrieben werden. Bei einem etwaigen Wettbewerb wäre zweierlei essenziell: Erstens muss die Umgestaltung in einem Denkmal resultieren, das jede Deutung als Ehrung der Person Karl Luegers verunmöglicht. Zweitens muss die Jury international und disziplinenübergreifend besetzt sein. Es wurden in den letzten Jahren schon zu viele misslungene Denkmäler in Wien errichtet. Die Umgestaltung des Lueger-Denkmals ist eine Chance für die Stadt Wien, sich international mit einem Best-Practice-Beispiel zu positionieren und geschichtspolitisch im 21. Jahrhundert anzukommen.


Das Interview wurde von Jannik Franzen geführt.

Eduard Freudmann, Mischa Guttmann, Gin Müller, Simon Nagy und Anna Witt arbeiten als Künstler*innen in Wien. Gemeinsam haben sie die Schandwache am Karl-Lueger-Denkmal initiiert und organisiert.