Gemachtes Vergessen

Editorial

Als ein im besten Sinne überbordendes Beispiel für ein Kompendium vergessen gemachter Geschichte kann Tom Holerts preisgekröntes Buch über den Zeit-Raum ca. 1972 (Leipzig 2024) gelesen werden: Hier treffen häretische marxistische Diskurse und künstlerische Kritik geopolitischer Machtverhältnisse auf indigene Selbstbestimmung und alternative Geschichtspolitik, die genderpolitischen und feministischen Aufbrüche verknüpfen sich mit dem globalen ökologischen Aktivismus und antikolonialen Befreiungsbewegungen. Wer weiß, was den Zeitgenoss:innen dieser Ära von diesen Zusammenhängen wirklich bewusst war, zweifellos aber entreißt Holert vieles dem Vergessen, das ihm anheimgefallen oder bewusst ausgesetzt worden war.

Das Erinnern ist ein aktives Wachhalten, manchmal ein Ausgraben und Pflegen, ein Hervorholen einstmals Gewussten, auch eine Neubewertung des randständig Gemachten. Erinnern ist auf jeden Fall Arbeit. Das Vergessen hingegen geschieht ganz von selbst, es ist, wie die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann schreibt, „der Normalfall in Kultur und Gesellschaft“. Ihm wird allerdings auch nachgeholfen. Bekanntes wird verborgen, ignoriert, verschwiegen, überschrieben, geleugnet – die Arten und Weisen, auch das Vergessen aktiv zu betreiben, sind vielfältig. Es ist Teil jenes Feldes „permanenter Deutungskämpfe und Neuverhandlungen“, als das Harald Welzer und Claudia Lenz in Der Krieg der Erinnerung (2007) Erinnerungspolitiken beschrieben haben.

Die Frage nach dem vergessen Gemachten ist daher auch eine Intervention ins Selbstverständliche. Vergessene künstlerische Arbeiten, vergessene Bücher, vergessene Geschichten wurden immer wieder zum Anlass für Kämpfe um Inklusion des Ausgeblendeten und für die Erinnerung an das Vertuschte und Verratene. Diese Ausgabe des Bildpunkt widmet sich verschiedenen Beispielen des Vergessenmachens und diskutiert die Formen, die das Wegdrängen und Ausblenden annehmen und die Funktionen, die es gesellschaftlich erfüllen kann. Damit können die hier versammelten Texte, wenn es gut läuft, einen Beitrag zu dem leisten, was Tom Holert die Förderung der „Multiperspektivität von Gegenwartserfahrung und Geschichte“ genannt hat.


Jens Kastner ist koordinierender Redakteur.