„… wie die Irrelevanz der westlichen Kunstgeschichte durchzusetzen wäre …“

Trope und Tropen im Gespräch mit Miguel A. Lopez und Mai Ling

Bildpunkt: Dieser Bildpunkt kreist um die Frage, wie die „Tropen“ – eine bestimmte, imaginäre tropische Erfahrung – das Denken und Schreiben beeinflusst. Kulturelle Kodes und Muster für die Selbstbeschreibung entstehen, aber auch die Exotisierung der Anderen, oft als stereotypisierende Liebeserklärung, die einschnürt und nicht Gleichheit praktiziert. Formen sowohl literarischer als auch künstlerischer Revisionen solcher kolonial geprägten Imaginationen laufen Gefahr, eben jene Vorstellungen weiter zu verfestigen und fortzuschreiben. Wie geht ihr in eurer Praxis mit dieser oft schmalen Grenze um?

Miguel A. López: Migrationserfahrungen gibt es in allen Gemeinschaften, nicht nur im Globalen Süden. Die Tatsache, dass viele dieser Prozesse mit Exotisierung konfrontiert sind, zeigt, dass die Repräsentationsprozesse immer noch stark vom weißen rassischen Common Sense kontrolliert werden. Die dominante Kultur verfügt in der Tat über eine enorme Fähigkeit zur Kooptation (und Exotisierung) dieser Erzählungen, aber das bedeutet nicht, dass diese Geschichten unerzählt bleiben sollten. Die weiße rassistische Logik mag versuchen, diese Erfahrungen zu vereinfachen, aber reale Erfahrungen und ein wachsendes Bewusstsein für das Weißsein als eine narrative Konstruktion stellen diese Normen weiterhin in Frage.

Mai Ling: Als Mai Ling stellen wir die Stimmen von FLINT* aus einer queer-feministischen und antirassistischen Perspektive in den Mittelpunkt und hinterfragen das Stereotyp einer unterwürfigen asiatischen Frau, die in westlichen heteronormativen Fantasien übersexualisiert wird. Diese Stereotype sind keine „Liebeserklärung“, aber sie sind die Bilder, die „asiatisch aussehenden“ Körpern so hartnäckig und unerbittlich aufgezwungen werden. Sie perpetuieren Gewalt und bringen Stimmen zum Schweigen, ohne dass das Problem wirklich anerkannt würde. Anne Anlin Cheng zeigt in ihrem Buch Ornamentalism auf, wie asiatische Weiblichkeit als Hybrid aus Mensch und Objekt rassialisiert und vergeschlechtlicht wurde und in der westlichen Moderne als dekorative Ästhetik dient. Wir thematisieren diese Objektivierung und strukturell übersehene intersektionale Diskriminierung von QTBIPOC in Österreich und darüber hinaus.

Bildpunkt: In dekolonialistischen Ansätzen innerhalb des Kunstfeldes wird gegenüber dem Eurozentrismus von Kunstgeschichte und Ausstellungswesen die Integration der Ausgelassenen und Verschwiegenen eingeklagt. Dabei wird ihnen nicht selten eine Position zugeschrieben, die etwas Anderes verkörpern muss, eine kollektivere, affektorientiertere oder spiritualistischere Kunst etwa. Wie kann Exotisierung in Ausstellungen zeitgenössischer Kunst vermieden werden?

Mai Ling: Wir glauben, dass es bei Ansätzen der Dekolonisierung nicht darum geht, sich „in Opposition zum Eurozentrismus“ zu positionieren oder sich um ihn herum zu drehen. Eine Exotisierung ist unvermeidlich, wenn die „Integration der Ausgeschlossenen“ als Gegensatz zur eurozentrischen Kunstgeschichte gesehen wird, anstatt die außerhalb des eurozentrischen Raums existierende Kunst und das Wissen als kulturell bedeutsam anzuerkennen. Institutionen müssen mit dieser extraktivistischen Art des Ausstellungsmachens aufhören und stattdessen ein Ver-Lernen betreiben, anstatt nur eine Diversity-Checkliste zu erfüllen. Wir konzentrieren uns darauf, uns erkenntnistheoretisch von einem solchen Diskurs zu lösen (dis-orienting) und gleichzeitig unsere Verstrickung als Künstler*innen in Europa zu verstehen. Vielleicht wäre diese Frage besser an die Institutionen zu richten.

Miguel A. López: Im Jahr 1973 schrieb die Künstlerin und Aktivistin Cecilia Vicuña in ihr Tagebuch: „Ich betrachte meine Bilder als eine Art rituelles Handwerk. Es sind Objekte, die unabhängig von der ‚Kunstgeschichte‘ existieren. Es ist, als ob diese Geschichte tot wäre oder nie existiert hätte“. Das war eine kraftvolle Untersuchung über unser Gefühl der Zugehörigkeit. Ich denke ständig darüber nach, wie die Irrelevanz der dominanten westlichen Kunstgeschichte und ihrer Kategorien und Erzählungen durchzusetzen wäre. Vielleicht ist das auch ein Problem der bestehenden Sprache. Ich plädiere dafür, Begriffe und Vokabeln zu akzeptieren, die Künstler*innen schaffen, um weiße Bezugsrahmen und vereinfachende Gegensätze zu überwinden.

Bildpunkt: Miguel, die Ausstellung And if I devoted my life to these feathers? (2021) in der Kunsthalle Wien widmete sich der künstlerischen Auseinandersetzung mit indigenem Widerstand und Kämpfen gegen Umweltzerstörung und Gewalt. Inwieweit können indigene und queer-feministische Perspektiven miteinander verbunden werden?

Miguel A. López: Indigene und queer-feministische Perspektiven sind in ihrer Kritik am Kolonialismus und dem Wunsch nach Dekolonisierung verschiedener Wissenssysteme und sozialer Beziehungen verbunden. Das Potenzial dafür ist so groß wie die zahlreichen Identitäten, die die Begriffe „queer“ und „indigen“ umfassen. Eine der Künstler*innen, die in der Ausstellung in der Kunsthalle Wien vertreten waren, war María Galindo und das anarchafeministische Kollektiv Mujeres Creando aus Bolivien. Angesichts der Homogenität vieler politischer Bewegungen betonen sie die Notwendigkeit, ungewöhnliche, unerwartete und vielseitige Allianzen zu kultivieren, die die politischen Horizonte sozialer Bewegungen ständig neu definieren.

Bilpunkt: Mai Ling, ihr habt euren Namen einem Sketch des Kabarettisten Gerhard Polt aus dem Jahr 1979 entlehnt. Das kurze Stück über einen Mann, der eine Asiatin aus dem Katalog gekauft hat, zeigt deutlich die Grenzen der Satire, die hier selbst rassistische und sexistische Klischees reproduziert. Wie lassen sich Exotisierung und Stereotypisierung in der Aneignung vermeiden?

Mai Ling: Unser Fokus liegt nicht auf der Vermeidung von unverhohlenen und ignoranten Stereotypen, sondern auf der Konfrontation mit deren ständiger Reproduktion durch den weißen, eurozentrischen, heteronormativen und patriarchalen Blick. Wir nutzen die „Anonymität“ strategisch und haben uns die fiktive Figur der stimmlosen „Mai Ling“ aus dem Sketch von Polt wieder angeeignet, um unsere eigene Handlungsfähigkeit zurückzufordern. Da unsere Mitglieder unterschiedliche soziokulturelle Hintergründe haben, umfasst Mai Ling verschiedene und komplexe asiatische Kulturen und Geopolitiken; niemand kann „Asien“ oder feminisierte Körper repräsentieren. Stattdessen verstärken wir unsere kollektiven Stimmen, um gegen diese Exotisierung zu kämpfen.

Bildpunkt: Die Sehnsucht nach Reisen in ferne Länder und einer damit einhergehenden (Selbst-)Erfahrung scheint ungebrochen, trotz Kritik und Klimakatastrophe. Digital Nomads feiern Lebens-entwürfe, die auf Pass- und Währungsprivilegien basieren, als das Erreichen gesellschaftlicher -„Freiheit“. Inwiefern stehen diese Inszenierungen in Verbindung zu modernen Imaginationen des -Tropischen?

Mai Ling: Es lässt sich darüber diskutieren, ob die Freiheit der Mobilität (für diejenigen, die es sich leisten können) in andere Länder eine Form der respektvollen Bewunderung, der gefeierten transkulturellen Hybridität, der Aneignung oder kolonialer extraktivistischer Herangehensweisen ist – wir verstehen sie als mit den eigenen Privilegien verbunden, und im Fall des digitalen Nomaden, als höchstwahrscheinlich koloniales Privileg. Die moderne Neuinterpretation des Tropischen ruht auf den Schultern der kolonialen Imagination, sie hat sich nicht verändert. Das Einzige, was sich geändert hat, ist seine Zugänglichkeit. Darüber hinaus wird das Reisen oft für den Klimawandel verantwortlich gemacht, aber der Zugang zur Mobilität bedeutet für diejenigen etwas anderes, die lange Zeit unterdrückt wurden.

Bildpunkt: Wenn man die Tropen auch als Imaginationsraum begreift, in dem Vorstellungen von der Welt sozusagen schweißgebadet, also körperlich reifen, gibt es einen „tropischen Hintergrund“ in eurer Praxis?

Miguel A. López: Ich bin in Lima aufgewachsen, das nach Kairo als die zweitgrößte Wüstenstadt der Welt gilt. Obwohl ich kein typisch tropisches Umfeld hatte, spielte das Konzept einer schweißtreibenden und körperlichen Kunstpraxis eine wichtige Rolle in meiner kuratorischen Arbeit. Kunst ist eine kollektive Ressource, die Darstellungen und Sprachen umfasst, die eine performative Dimension haben und unsere körperlichen Energien, unser Bewusstsein und unsere Begehrensstrukturen beeinflussen. Der verstorbene Dragqueen, Philosoph und liebe Freund Giuseppe Campuzano, Gründer des Travestite Museum, hat mich gelehrt, dass wir kontinuierlich eine körperliche und erotische Beziehung zum Wissen entwickeln sollten, was ich auch versuche zu tun.

Mai Ling: Die materielle Differenz der Tropen als „imaginativer Raum“ ist wichtig, da die „Tropen“ durch ihre eigenen signifikanten historischen und kulturellen Bedingungen verstanden werden müssen. Die „Tropen“ als einen geografischen Raum abzugrenzen, in dem nur bestimmte Arten von Ideen aufkeimen können, bedeutet, sie aus ihrem Kontext als geopolitischen und physischen Raum herauszunehmen, der eindeutig außerhalb des globalen Nordens liegt. Unsere Praxis als Mai Ling umfasst verschiedene Verständnisse von Unterschieden, Positionierungen und komplexen geopolitischen Zusammenhängen innerhalb und außerhalb Asiens. Diese Verflechtungen sind nicht nur auf die „Tropen“ beschränkt.


Miguel A. López ist Autor und Ko-Kurator der Toronto Biennale 2024. Er lebt und arbeitet in Toronto.

Mai Ling ist eine Künstler*innenvereinigung bzw. ein Kunst-Kollektiv in Wien, die/ das eine Plattform zum Teilen und zum Austausch von Erfahrungen bietet, insbesondere im Zusammenhang mit asiatischen FLINT*. http://mai-ling.org

Das „Gespräch“ wurde im Mai und Juni 2024 von Sophie Schasiepen und Jens Kastner per E-Mail geführt.