Bildpunkt: Intersektionalität bezeichnet die Überkreuzung verschiedener Unterdrückungs- und Diskriminierungsformen. Im deutschsprachigen Raum ist der Begriff mit einiger Verspätung eingetroffen, aber ein Nachdenken über die zusammenhängenden Wirkungen von ethnischer Zuschreibung, Geschlecht und Klasse hat es schon im Feminismus der 1980er Jahre gegeben. Ganz allgemein gefragt, worin sehen Sie beide die wichtigsten Errungenschaften der Intersektionalitätsdebatte?
G.B.: In erster Linie sehe ich die Anerkennung der Mehrfachdiskriminierung überhaupt als eine der wichtigsten Errungenschaften. Die Definition der Intersektionalität hat mitunter erst dazu geführt, dass ein Sprachrohr fü̈r betroffene Personen geschaffen werden konnte. Denn eine Person kann so lange nicht fuür sich und ihre Diskriminierung sprechen, solange sie kein Empowerment in der jeweiligen Thematik erfahren hat. Dabei kann die alleinige Anerkennung des Vorhandenseins von intersektionaler Diskriminierung bereits eine Art von Empowerment darstellen, wodurch betroffene Menschen wiederum die Mö̈glichkeit dazu bekommen, sich zu formieren. Nach meinem Ermessen sind wir darüber hinaus gesamtgesellschaftlich noch nicht sehr viel weiter gekommen.
P.I.V.B.: Zunächst würde ich gern klarstellen, dass ich weder den Begriff Intersectionality/Intersektionalität noch die weitreichende und in sich hoch differenzierte Debatte als ausschließliche Thematisierung von Unterdrückung und Diskriminierung verstehe. Beides sind zentrale Dimensionen. Aber gerade für mich als Soziologin wie auch im Sinne des Politischen handelt Intersektionalität von der strukturierten Komplexität sozialer Ungleichheit und Herrschaft. Was ich damit betonen möchte, ist die Ebene sozialer Verhältnisse und Strukturen, deren Geschichtlichkeit und den sozialen Wandel, die soziale Positionierung von Menschen und was dies für Lebenschancen, Ressourcen, Teilhabe, Gewalt usw. bedeutet. Unterdrückung und Diskriminierung gehören dazu. Aber zu oft geht es in den Debatten zu sehr um individuell-subjektive Erfahrungen oder gar „Identitäten“. In der Debatte geht es m.E. bisweilen zu wenig um diese genuin gesellschaftliche, strukturelle, politische Dimension. Die Intersektionalitätsdebatte bündelt in dieser Hinsicht viele Jahrzehnte, beinahe Jahrhunderte Einsicht in Theoretisierung sowie Politisierung von Komplexität sozialer Differenzen und Herrschaft. Spätestens seit Sojourner Truth ist in der Welt, dass „Frau nicht gleich Frau nicht gleich Frau …“ ist, wie überhaupt niemand identisch ist mit der einen sozialen Differenz. Anders gesagt: eine soziale (Gruppen-)Kategorie ist nie an und für sich so-seiend, Frau ist z.B. immer spezifisch im Kontext von Klasse, Region, Alter, Sexualität und mehr. Das ist kein abgehobenes Rumontologisieren (und, wenn, wäre das keineswegs schlimm), sondern handfeste politische, rechtliche, lebensweltliche konkrete Relevanz. Intersektionalität hat also essentialististische Ideologien von homogener Eigentlichkeit, etwa sozialer Kategorien, systematisch befragt und widerlegt.
Bildpunkt: Gîn Bali, Sie arbeiten als Sängerin, Performerin und DJ, aber auch als Musikpädagogin. Auf der Seite des Netzwerks YAYA, in dem Sie aktiv sind, heißt es über Sie, Ihr künstlerischen Schaffen sei „geprägt von intersektionalem Feminismus und Antirassismus“. Was bedeutet das für Sie und wie äußert sich das?
G.B.: Da Feminismus nicht gleich Mehrfachdiskiminierung berücksichtigt, ist es fü̈r meine gelebte Form von Feminismus unabdingbar, den Begriff der „Intersektionalität“ unmittelbar mit dieser zu verbinden. Außerdem bin ich ein Kind der Diaspora, d.h. ich trage, einfach ausgedrü̈ckt, zwei Identitäten in mir: die meiner deutschen Umgebung und die meiner kurdischen Familie. Das bedeutet für mich, dass sich auch mein aktivistischer Habitus nach der jeweiligen Identitä̈t auszurichten hat, in der ich mich bewege. Natü̈rlich greife ich die daraus entstehende Verzahnung meiner sowohl antifaschistischen als auch feministischen Sozialisiation in meinem künstlerischen Schaffen auf. Als DJ äußert sich dies durch aktivistische Sets, meine Arbeit als Musikpädagogin ist geprägt durch einen Fokus auf Schü̈ler_innen, die von intersektionaler Diskriminierung betroffen sind, meine Kompositionen sind immer eine Erfahrung meines diasporischen Ichs. Außerdem priorisiere ich es, Rä̈ume fü̈r andere zu schaffen und zugleich für mich selbst. Dies habe ich auch in dem von mir mitgegründeten Yaya e.V. getan. So habe ich innerhalb dieses Vereins mit anderen BIPOC-Personen das Kollektiv Amalopa gegründet, eine Formation für diasporische Club- und Popkultur, die sich an BIPOC richtet.
Bildpunkt: Paula-Irene Villa Braslavsky, Sie gehen in Ihrem (gemeinsam mit Sabine Hark) verfassten Buch Unterscheiden und herrschen (2017) u.a. den Verwerfungen nach, die verschiedene Formen der sozialen Über- und Unterordnung und ihre Interpretationen mit sich bringen. So wird die Emanzipation von Frauen in den letzten Jahren immer wieder als vermeintliches Anliegen ultrarechter Parteien zur „Rechtfertigung rassistischer bzw. islamfeindlicher Ausgrenzungspolitiken“, schreiben Sie. Zugleich ist nach den Übergriffen gegen Frauen in der berüchtigten Silvester-Nacht von Köln 2015/16 auch von feministischer Seite antiislamisches Ressentiment bedient worden. Wie verhindern wir, dass Antisexismus und Antirassismus gegeneinander ausgespielt werden?
P.I.V.B: Dafür ist es zunächst wichtig anzuerkennen, dass dies geschieht und dass dies empirisch feststellbar ist. Anders gesagt, wir müssen beobachten und verstehen, dass und wie Feminismus auch rassistisch (oder transfeindlich oder völkisch oder antisemitisch usw.) vielfach ist. Das mag meiner oder Ihrer Vorstellung von Feminismus nicht entsprechen, ist aber so. Darum ist es dann wichtig, diese „Vorstellungen“ zu „entpacken“, die buzzwords wie Feminismus oder Rassismus auch mal weg zu lassen, und stattdessen inhaltlich zu argumentieren. In diesem Lichte meine ich, dass sich Formen gruppenbezogener Abwertung, Missachtung, Entrechtung, Ausbeutung, Exlusion ähneln. Wer also gegen die Missachtung und Benachteiligung von Menschen aufgrund ihres Geschlechts ist, und sich für die Gleichstellung von Männern und Frauen sowie der Sicherheit insbes. von Frauen einsetzt, klassischer feministischer Antisexismus also, kann nicht guten Grundes dies nur für deutsche oder weiße oder christliche oder westliche oder verheiratete oder heterosexuelle oder Frauen, die menstruieren, wollen. Das ist nicht nur unlogisch, es ist praktisch Quatsch. Eine weitere argumentative Mühe, der wir uns nicht entziehen können, ist die Frage nach dem Kern von (Anti-)Feminismus, (Anti-)Sexismus, (Anti-)Rassismus. Wenn diese nicht gegeneinander ausgespielt werden sollen, so muss diskutiert werden, was macht „Sexismus“ aus, und inwiefern geht das nicht zusammen mit z.B. Rassismus oder „Islamfeindlichkeit“? Wenn z.B. die Anerkennung individueller Autonomie und Gewaltfreiheit der Kern von Feminismus ist oder wäre, wie lässt sich eine pauschale Unterstellung rechtfertigen, dass das Kopftuch sexistisch sei – wenn viele kopftuchtragende Frauen sagen, dass sie das völlig freiwillig, nach sorgfältiger Abwägung, frei von Zwang tun? Ich finde das nicht überzeugend. Aber es nötigt mich dazu, nachzudenken, was Autonomie, Freiheit, Gleichberechtigung usw. bedeutet. Und das Entscheidende wäre, dies nicht über die, sondern mit denjenigen zu tun, die anders denken oder agieren als ich.
Bildpunkt: Die Aufmerksamkeit für Intersektionalität entstand im Feminismus. Ein Kritikpunkt, der in den vergangenen Jahren immer wieder zu hören war, lautet, dass die Intersektionalitätsansätze zwar die Verbindungen von Gender und Race gut darstellen können, letztlich aber Klassen und Produktionsverhältnisse vernachlässigen würden. Was würden Sie dem entgegnen?
P.I.V.B.: Zunächst nehme ich die Kritik, oder auch nur den Eindruck ernst. Ich muss das nicht als erstes abwehren oder dem was entgegnen. Ich frage: woher kommt dieser Eindruck? Welche Lektüre oder Debatte, welche Erfahrung oder Praxis steckt dahinter? Aber ich teile ja manches Unbehagen, dass „intersectionality“ bisweilen verniedlicht wird, auf eine rein individuelle „Identitäts“- oder Erfahrungsbefindlichkeit, auf „Mikropolitik“ oder gar auf voluntaristische Absichten – „check your privileges“. However, das ist ja alles nicht falsch! Es ist nur reduziert, abgeschnitten von einer kritischen Gesellschaftsanalyse, die den z.B. Privilegiencheck abschneidet von der Einsicht in Strukturen und Verhältnisse, eben auch in Ökonomie. Es war eine zeitlang womöglich etwas weniger funky, über (Re-!)Produktionsverhältnisse zu sprechen, in Forschung und im Politischen, auch im (Sub-)Kulturellen. Aber das war a) nie ganz weg und b) ist immer auch eine Forderung an uns selbst. Aktuell, im Kontext von Klimakrise und CoVid, ist m.E. die kritische Politisierung von (Re-)Produktionsverhältnissen wieder da, ist wieder fresh, grad auch in den sozialen Bewegungen rund um Ökologie, Mieten/Wohnen oder Care/Pflege/Familie, auch im Kontext der Pandemie. Und, wenn ich das richtig deute, wird in diesen Konstellationen komplexe Intersektionalität praktisch.
G.B.: Ich habe dem nicht wirklich etwas zu entgegnen. Ich sehe die Ansätze der Intersektionalität eben als das was sie sind, nä̈mlich Ansätze. Allerdings gibt es zu viele Nuancen der Diskriminierungsformen, die noch nicht genug ausgearbeitet sind. Ein Hauptsymptom der Vernachlässigung anderer intersektionaler Diskriminierungsformen zeigt sich darin, dass Gender und Race oft (in vielen Fä̈llen ist dem auch nicht so) einfacher sichtbar sind, was sie zugleich greifbarer macht. Klassismus und Produktionsverhä̈ltnisse scheinen jedoch fü̈r aktives Handeln auf den ersten Blick viel schwieriger miteinzubeziehen. Zudem ist intersektionaler Feminismus auch als Begriff zu einem gewissen Trend geworden. Der Zugang zu diesem sowie zu dem Diskurs, der überaus akademisiert wird, setzt jedoch einen gewissen Bildungsgrad und finanzielle Ressourcen voraus, wodurch automatisch Klassismus eine Rolle spielt. Die Konsequenz: Wir müssen mehr ü̈ber Nuancen sprechen!
Bildpunkt: Intersektionalität ist ja nun ein recht sperriger Begriff. In den hitzigen Debatten der letzten Monate um Cancel Culture, Identitätspolitiken usw. tauchte er vielleicht deshalb auch kaum auf. Wenn wir davon ausgehen, dass intersektionalistische Perspektiven die Analyse von Marginalisierungen erweitern helfen, wie lässt sich intersektionales Denken im Kulturbereich bzw. in der soziologischen Forschung vertiefen?
G.B.: Gerade im Kulturbereich ist intersektionales Denken in jedem weiß mä̈nnlich geprä̈gtem Raum, den ich betreten habe und sogar mitgestalte durfte, meiner Erfahrung nach aktuell noch komplett performativ. Auch an den Orten, an denen ich selber als Bookerin/Veranstalterin/ Projektkoordinatorin arbeite, werde ich gerne als Legitimation für jedes unaktivistische Handeln benutzt. Ich kenne das Gefühl der Tokenisierung nur zu gut, dabei bin ich noch nicht einmal so stark wie andere von intersektionaler Diskriminierung betroffen. Wie sich intersektionales Denken gerade im Kulturbereich vertiefen lä̈sst? Das Abgeben von Macht wäre vielleicht mal ein Start. Aber halt auch in echt und nicht so, dass einem_r die ganze Zeit Menschen ü̈ber die Schulter gucken, „was sie denn da jetzt so anders in ihrem hochheiligen (meist sehr langweiligen) Laden machen wollen“. Denn aktuell funktioniert dieses Spiel von „wir haben da letztes Jahr was gelesen, wir wollen jetzt auch mal was machen gegen Rassismus und Sexismus“ genau so.
P.I.V.B.: In der soziologischen Forschung ist das längst gang und gäbe – in einzelnen Bereichen allerdings nur. Dort, z.B. in der deskriptiven Statistik oder in der Geschlechtersoziologie, fordert es einerseits bisherige Forschungsroutinen heraus, zugleich liefert Intersektionalität eine (vorläufig hinreichend produktive) Antwort auf bisherige Forschungsdilemmata. Empirische Forschung zeigt immer wieder, dass eine Kategorie allein nie die komplexe soziale Wirklichkeit einfängt – Klasse ist in sich segregiert und horizontal fragmentiert, Geschlecht ist in sich total unklar und je nach Kontext und eben anderen Differenzen hochgradig variabel in Form und Relevanz usw. Daher ist Intersektionalität lange schon ein Forschungsthema. Auf jeden Fall ist intersektionale Forschung sinnvoll und wichtig für eine empirisch plausible, theoretisch nachhaltige Sozialwissenschaft – weil die soziale Wirklichkeit komplex ist.
Gîn Bali ist Gitarristin, Sängerin, Musikpädagogin, Veranstalterin, DJ und Producer. Sie betreibt seit März 2019 die Veranstaltung Yaya in der Mauke Wuppertal.
Paula-Irene Villa Braslavsky ist Soziologin und Professorin an der LMU München. Sie ist Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.
Das „Gespräch“ wurde im September 2021 von Sophie Schasiepen und Jens Kastner per E-Mail geführt.