Altern geschieht in Schüben. Zwar schreitet der Prozess grausam kontinuierlich voran, doch erst anhand physischer oder mentaler Zäsuren bricht die klare Erkenntnis auf, dass wirklich etwas vergangen ist. Es muss 25 Jahre her sein, als mich auf einem Bahnsteig am Bahnhof Zoo die erste dieser Zäsuren traf – denn um mich herum sah ich plötzlich nur Menschen, die jünger waren als ich, aber längst schon erwachsen. Ein zweiter mentaler Bruch – von den physischen rede ich gar nicht – war vor rund 10 Jahren ein öffentliches Podium, auf dem ich über „Sexual Politics“ reden sollte. Unten aus dem Saal schauten mir blutjunge Gesichter entgegen, ob queer oder straight konnte ich nicht feststellen, nur siedend heiß war der Gedanke: „Ich habe nicht die geringste Ahnung, was ihr im Bett macht. Was um Himmels Willen soll ich euch über Sexualität erzählen?“ Seither häufen sich die Zäsuren, sie werden zur schmerzhaften Routine, und die letzte stammt aus dem vergangenen Sommer, als ich in einem Kunsthochschulseminar „Textproduktion für Print und Radio“ einen der Teilnehmer dabei beobachtete, wie er, sichtlich überfordert, versuchte, eine Süddeutsche Zeitung zusammenzufalten. Das war eine Kulturtechnik, die er nicht gelernt hatte und auch nicht mehr brauchte.
Generationenkonflikte entzünden sich an den Fragen von Autorität, Wissen, Erfahrung, Fertigkeiten und Fitness. Bislang standen Autorität, Wissen und Erfahrung auf Seiten der älteren Generation – etwa durch gefestigte berufliche und familiäre Position oder auch Lebenserfahrung –, während die Jüngeren mit Geschicklichkeit punkten können (oft) und mit Fitness (immer). Agiler sind sie, in der Regel gesünder als die Alten, und die Zeit ist auf ihrer Seite. Doch ganz so festgefügt ist die Aufteilung heute nicht mehr. Nicht nur Personen, auch Institutionen haben im schnellen gesellschaftlichen Wandel an Autorität verloren; deutlich zeigt sich das an den klassischen Medien Fernsehen, Print und Radio. Deren Relevanz hat rapide nachgelassen, stelle ich beunruhigt auch an mir selber fest.
Die Studierenden in meinem Kurs lesen keine Printmedien mehr – sie alle beziehen ihre Informationen über Instagram; auf manche meiner Artikel sind sie über irgendwelche Links aufmerksam geworden, während ich Mühe habe, die eigenen Beiträge in den Onlineausgaben der Zeitungen zu finden. Das gelingt nur noch über Stichwortabfrage. „Textproduktion für Print und Radio – was bringe ich euch da bei?“, denke ich. Die Halbwertzeit der Bedeutung der eigenen Erfahrung, auch der sprachlichen Skills, verringert sich rapide, nutzlos steht mein „Handbuch des Journalismus“ im Regal, ganz zu schweigen von „Deutsch für Profis“. Lange war das Buch wichtig, doch jetzt klingen Wolf Schneiders selbstverliebte Erbsenzählereien eher lächerlich: „Jedes weggestrichene Adjektiv ist ein Gewinn.“
Ein Kollege, Feature-Redakteur bei einer großen Rundfunkanstalt, sieht das optimistischer. Die ganze heilige Institution Radio, die hierarchische Maschinerie mit ihrem Personal, dem Equipment, den Tonstudios, den Redaktionen samt ihrer Gatekeeper laufe leer, sagt er fast erleichtert. Die jüngeren Featuremacher:innen podcasten, werden von Spotify angeheuert und verdienen damit Geld. Die hohe Kunst, überhaupt Zugang zum Rundfunk zu bekommen, der Umgang mit komplizierter Tontechnik, sei nicht mehr so wichtig. Gut so, findet er. Weg mit den zu schweren Tankern. „Was sollen wir den Jüngeren aber noch beibringen?“, frage ich. „Das, was wir können“, sagt der Kollege. Das ist in seinem Fall gute Töne zu produzieren, in meinem: sorgfältige Formulierung, Nachdenken, Argumentieren.
Brav und freundlich bedanken sich die Studierenden im Kurs „Textproduktion“ für die Einblicke, die sie gewonnen hätten – für klassische Printmedien schreiben wollen sie keinesfalls. Brav und freundlich achte ich auf korrektes Gendern und halte meine Irritation darüber in Schach, dass sie politisch auf einer geraden Linie zu stehen scheinen. Warum nicken alle bei den gleichen Aussagen, als gebe es hier keinen Widerspruch? Niemanden verletzen, niemanden ausschließen – ich kenne diese Regel nicht von früher, die Selbstverständlichkeiten waren andere und auch die Triggerpunkte politischer Empörung.
Keine Ahnung, für wie alt die Youngsters mich eigentlich halten. Ich kann mich nur daran erinnern, wie ich Ältere gesehen habe früher. Ob die 40 oder 50 oder 60 Jahre alt waren, spielte keine Rolle – sie waren jenseits. Jenseits einer Mauer. Erfahrungen können nur begrenzt weitergegeben werden, denke ich, viele der Weisheiten der Älteren sind in der Gegenwart nutzlos. Manche Erfahrungen müssen einfach immer wieder neu gemacht werden und manche lassen sich nicht vermitteln, weil sie nicht vorstellbar sind.
Was geschieht, wenn einfach niemand mehr weiß, wie ein schwieriger Text zu lesen ist und wenn es auch nicht mehr wichtig ist? Wenn die Standards sich ändern, der Genitiv halt verschwindet so wie die ehemals als schön geltende Partizipialkonstruktion, wenn keiner sich erinnert, was das war, ein langer Essay, wenn niemand mehr komplexen Satzbau versteht? Sprache ändert sich, Stile und Moden vergehen und auch, vermutlich, die Kriterien für „Genauigkeit, Präzision, Sachangemessenheit“.
Der heilige Augustinus, ein durchaus gebildeter Mann, konnte schon im vierten Jahrhundert nach Christus kein Griechisch mehr, und was bringen heute Lateinkenntnisse außer gutbürgerlichem Distinktionsgewinn? „Eine tote Sprache“, sagte schon mein Vater und riet mir, Französisch zu lernen. Das lebt. Ja? Wie lange noch? Altes Wissen und auch alte Weisen zu denken sind wertvoll, es ist gut, sie zu kennen, aber es hilft nicht, sich hinter ihnen zu verstecken. Heute weniger denn je.
Andrea Roedig, geboren in Düsseldorf, lebt als freie Publizistin in Wien. Sie promovierte im Fach Philosophie, schreibt für Rundfunk und Printmedien in Deutschland, Österreich und der Schweiz, vornehmlich in den Bereichen Gender, Alltagsreportage und Kulturessay. Sie ist Mitherausgeberin der Literaturzeitschrift Wespennest.