Ein „selbstironisches Spiel mit Exotismus“ habe Michel Foucault zwar betrieben. Insgesamt aber, resümmiert der Kulturwissenschaftler Onur Erdur, bleiben Kolonialismus und Neokolonialismus eine „eklatante Leerstelle in Foucaults Werk“, wie auch in dessen Rezeption. Erdur zeigt in seiner instruktiven und gut lesbaren Spurensuche nach dem Einfluss kolonialer Situationen auf die französische Theorie auf, dass etwa Pierre Bourdieu, Roland Barthes und Jean-Francois Lyotard die kolonialen Erfahrungen in Nordafrika wesentlich intensiver auch theoretisch reflektiert haben als Foucault. Mit schlechtem Gewissen und potenzieller Exotisierung zu kämpfen hatten sie alle. Relevant ist die koloniale Erfahrung insofern, als sie privilegierte Ausgangspositionen für kulturelle Praxis wie die Theorieproduktion schafft. Markus Rieger-Ladich geht in seiner begriffs- und ideengeschichtlichen Studie dem Privileg nach. Von den vormodernen Ursprüngen des Privilegs führt er die Leser*innen dabei über den Feminismus der 1970er Jahre bis in die Debatten der Gegenwart. Er kann dabei aufzeigen, dass und inweifern der Begriff des Privilegs zu einem „unverzichtbaren Erkenntnisinstrument“ geworden ist. Die Einsicht in das Fortdauern kolonialer Denkmuster auch lange nach Beendigung der politisch-militärischen Kolonialherrschaft hat die Sozialtheorie der letzten Jahre nicht zuletzt Denker*innen wie dem kenianischen Schriftsteller und Theoretiker Ngũgĩwa Thiong’o zu verdanken. Ausgangspunkt war für Thiong’o dabei u.a. die Einsicht, dass die Herrschaft über die Sprache „entscheidend für die Beherrschung des geistigen Universums der Kolonisierten“ war. Thiong’o richtet sich gegen die „koloniale Entfremdung“ als besonderen Effekt des Kolonialismus auf die Denk- und Wahrnehmungsweisen. Das Buch versammelt neben wichtigen seiner Texte auch Stimmen zu seinem Einfluss auf andere Kultur- und Sozialwissenschaftler*innen. Der Band Othering in der postmigrantischen Gesellschaft fragt danach, wie „die epistemische Gewalt in asymmetrischen Wissensregimen umgangen“ werden kann und was die „Dekolonisierung des Wissens“ in der methodischen Praxis bedeuten kann. In der empirischen Forschung soll vor dem Hintergrund einer postmigrantischen Perspektive mit der „westlichen Dominanz“ gebrochen werden. Postmigrantische Lesarten des Sozialen werden dabei als solche schon als „widerständige Praktiken der Wissensproduktion“ verstanden. In ca. 1972 schildert Tom Holert eine Vielzahl von Überlappungen zwischen sozialbewegten und ästhetischen Politiken sowie theoretischen Ansätzen Anfang der 1970er Jahre, die auch als Gegengeschichte zur Exotisierung gelesen werden können. Indigene Aktivist*innen des American Indian Movement kämpften beispielsweise dafür, an „Image und Ikonografie“ ihrer eigenen Geschichte mitzuwirken, der Begriff indigenous people sollte als politischer, nicht kultureller gefasst werden. An überbordend vielen Beispielen zeigt sich hier, wie sich Erfahrungen und deren Aneignung verkoppelt haben, die eine „Multiperspektivität von Gegenwartserfahrung und Geschichte“ deutlich machen können.
Onur Erdur: Schule des Südens. Die kolonialen Wurzeln der französischen Theorie. Berlin 2024 (Matthes & Seitz).
Tom Holert: ca. 1972. Gewalt – Umwelt – Identität – Methode. Leipzig 2024 (Spector Books).
Ngũgĩ wa Thiong’o: Dekolonisierung des Denkens: Essays über afrikanische Sprachen in der Literatur. Münster 2022, 3. Aufl. (Unrast Verlag).
Markus Rieger-Ladich: Das Privileg. Kampfvokabel und Erkenntnisinstrument. Leipzig 2022 (Reclam Verlag).
Irini Siouti, Tina Spies, Elisabeth Tuider, Hella von Unger, Erol Yildiz (Hg.): Othering in der postmigrantischen Gesellschaft. Herausforderungen und Konsequenzen für die Forschungspraxis. Bielefeld 2022 (Transcript Verlag).
Jens Kastner ist Soziologe und Kunsthistoriker und unterrichtet an der Akademie der bildenden Künste Wien. www.jenspetzkastner.de