Staat und Konsens

Stuart Hall als Vermittler, oder: Warum AnarchistInnen die Uhr umstellen

Vielleicht war Stuart Hall eine Art Verstärker. Jemand, dessen Positionen bestimmte Dinge deutlicher werden ließen und diese damit zugleich vermittelten. In dem Gespräch, das neun Schwarze feministische Theoretikerinnen auf Media Diversified über Halls Einfluss auf ihre Arbeit führen, wird diese Vermittlung jedenfalls immer wieder betont.[1] Er habe nicht nur häufig kollektiv gearbeitet, sondern immer auch theoretische Diskussionen angestoßen und ins Leben gerufen, betont etwa Patricia Noxolo. Als Schwarzer Kulturtheoretiker brachte er die Frage ethnischer Zuschreibungen als relevantes Problem für die Reproduktion gesellschaftlicher Verhältnisse auf die kulturwissenschaftliche Tagesordnung. Mit seinen Texten zu Repräsentationspolitiken schlug er zugleich Brücken zwischen materialistischer Theorie und poststrukturalistischen Ansätzen. Als eine dieser Brücken könnte etwa die Kritik an der Staatstheorie von Nicos Poulantzas gelesen werden, die Hall in einer Rezension von dessen Hauptwerk äußerte.[2]

Vielleicht kann Hall im Nachhinein auch als Hörrohr fungieren, in einer Auseinandersetzung, die der Staatstheoretiker Bob Jessop so schön als Dialogue of the deaf[3] beschrieben hat. Sie fand statt – oder eben auch nicht – zwischen dem aus Griechenland kommenden, in Paris lebenden Poulantzas und dem britischen Soziologen und Historiker Ralph Miliband. Beide, Poulantzas wie Miliband – Vater der heutigen Labour-Politiker David und Ed Miliband – waren Marxisten und bemüht um die Etablierung einer marxistischen Staatstheorie. Die sogenannte „Miliband-Poulantzas-Debatte“ aus den spätern 1960er und frühen 1970er Jahren begann mit einer Besprechung von Milibands Buch Der Staat in der kapitalistischen Gesellschaft (1975 [1969]) durch Poulantzas. Miliband hatte den Staat darin im Wesentlichen als „eine Reihe besonderer Institu- tionen“[4] charakterisiert. Poulantzas’ Auffassung nach war der Staat – damals noch sehr stark an Louis Althussers Ansatz angelehnt, zu dessen Schülern Poulantzas gehörte – vor allem als „Auswirkungen von Strukturebenen“[5] zu begreifen. Der staatstheoretische Gegensatz „instrumentalistisch vs. strukturalistisch“ war entstanden: Ist der Staat vor allem ein Instrument, das unterschiedlich gebraucht und also auch von der Arbeiterklasse benutzt werden kann? Oder ist der Staat eher eine Struktur oder deren Effekt, also relativ autonom von diesen oder jenen Eingriffen und letztlich innerhalb des Kapitalismus als Klassenstaat determiniert?

Wahrscheinlich hat Pierre Bourdieu recht, wenn er sagt, für die Sozialwissenschaften gebe es „keine schwierigere“[6] Aufgabe als die Frage nach dem Staat zu stellen. Er ist ein dermaßen komplexes theoretisches wie empirisches Objekt, dass seine Komplexität, stellt auch Jessop gleich zu Beginn seines Textes klar, „mit einem einzigen theoretischen Ansatz kaum vollständig gefasst und erklärt werden kann.“ Das Schwierigste ist bestimmt nicht immer auch das Interessanteste. Was den Staat aber unter anderem so diskutierenswert macht, ist, dass in ihm einige Schlüsselprobleme zusammenfallen, und zwar sowohl theoretisch als auch hinsichtlich der politischen Praxis.

Hier kommt wieder Halls Ansatz zum Tragen. Sicher nicht nur als Hörgerät, als Übermittler ohne Einfluss, sondern als Eröffnung neuer Lesweisen durch eigene Interventionen. Hall reagiert gar nicht direkt auf die sogenannte „Poulantzas-Miliband-Debatte“. Aber er bespricht 1980 in der New Left Review Poulantzas’ Buch Staatstheorie. Er kritisiert es an vielen Stellen, lobt es aber auch für seine offene und immer wieder sich selbst in Frage stellende Form. Darin bestehe das „Poulantzas-Abenteuer“ (Hall) und Hall animiert dazu, sich darauf einzulassen. Hall problematisiert unter anderem den vierten Teil von Poulantzas’ Buch, in dem dieser vom „Verfall der Demokratie“ spricht und einen „autoritären Etatismus“ diagnostiziert.[7] Hier wird ausdrücklich keine Tendenz zum Faschismus beschrieben, sondern die zwar repressiven, aber nicht in Gänze totalitären Reaktionsweisen der herrschenden Klassen auf ökonomische wie soziale Krisen. Der „autoritäre Etatismus“ zeichne sich durch „ein institutionelles Präventivdispositiv“ [8] aus, aber auch eine verschärfte nationale und globale Arbeitsteilung würden in ihm realisiert. Hall hat an dieser Krisendiagnostik gar nicht viel auszusetzen. Sein einziger Vorbehalt bestünde darin, so Hall, dass „Poulantzas nicht ausreichend ausführt, wie dieser Fortgang zum ‚autoritären Etatismus’ an der Basis auf der Grundlage einer komplementären Verschiebung der popularen Zustimmung-zur-Autorität abgesichert wurde – Produkt eines bemerkenswerten und intensiven ideologischen Kampfes, für den der ‚Thatcherismus’ ein symptomatisches Beispiel ist.“[9]

So nonchalant es hier eingeführt wird, so entscheidend ist aber das Problem der „popularen Zustimmung“ (Hall). Es verschiebt nämlich die Beschäftigung mit dem Staat einerseits auf kulturtheoretisches Terrain. Andererseits verlangt auch die politischstrategische Ausrichtung emanzipatorischer Kämpfe nach neuen Antworten. Inwiefern?

Das Problem, dass Menschen, die nicht zur herrschenden Klasse gehören, den je aktuellen Herrschaftsverhältnissen gegenüber nicht abgeneigt, ja nicht einmal gleichgültig, sondern sogar zustimmend eingestellt sind, beschäftigt kritische Theoriebildung von Antonio Gramsci und der Kritischen Theorie bis hin zu Pierre Bourdieu und Jacques Ranciere. Diese Zustimmung wird eben nicht erzwungen, sondern als Konsens hergestellt. Daran sind die staatlichen Apparate weniger mittels Polizeiknüppel und Gesetz beteiligt, als vielmehr über die Absicherung von Bedeutungen, die Garantie von Legitimität und Anerkennung. Weil sich Konsense nicht aus den ökonomischen Strukturen ableiten oder ablesen lassen, beschäftigen sich die genannten Ansätze auch mit machtdurchzogenen Praktiken und Prozessen der Sinn- und Bedeutungsgebung, oder kurz: mit Kultur.

Poulantzas tut das nur sehr bedingt. Er hatte gegenüber Althusser zwar betont, dass die praktischen Kämpfe den Effekten der Apparate vorausgehen. Die Kämpfe, so Poulantzas, „haben immer das Primat über die Apparate, weil die Macht eine Beziehung […] [und] der Staat die Verdichtung eines Kräfteverhältnisses“ ist.[10] Aber Poulantzas meint hier weniger Kämpfe um Bedeutungen und Definitionen, um Vorstellungen und Darstellungsweisen. Es geht ihm um politische Auseinandersetzungen im engeren Sinn. Und wer auf welche Weise dabei einen Konsens erringen kann, das hängt bei Poulantzas auch weniger von Sinngebungsprozessen und deren Garantie ab. Er würde zwar in einem widersprüchlichen Prozess hergestellt, wer sich dabei aber durchsetze, ist nach Poulantzas – wie Alex Demirovic aufgezeigt hat –, „abhängig von dem Niveau der ökonomischen Herrschaft über die ausgebeuteten und subalternen Klassen.“[11]

Halls Intervention bestand nun darin aufzuzeigen, dass die Kämpfe bereits innerhalb der Repräsentationen beginnen. Repräsentationsregimes stellen nicht nur im Nachhinein etwas dar oder sorgen für bestimmte Vorstellungen; sie spielen „eine konstitutive und keine bloß reflexive, erst nach dem Ereignis auftretende Rolle.“ [12] Es gibt demnach also auch verschiedenste Interpretationsformen und Deutungsweisen bestimmter Verhältnisse, auch wenn etwa die sozialstrukturelle Verortung derjenigen, die sie vornehmen, sehr ähnlich ist. Anders gesagt: Nicht zuletzt der Thatcherismus hat aufgezeigt, was dieses Verständnis von Repräsentation schon hätte nahe legen können, dass nämlich „die ArbeiterInnen“ auf den massiven Umbau der Gesellschaft sehr unterschiedlich reagiert haben. Manche sogar mit Zustimmung. Auch im Hinblick auf ethnische Zuordnungen ist das von Belang. So betont auch Pratibha Parmar im eingangs erwähnten Gespräch auf Media Diversified, Hall habe mit dieser These auch jede Phantasie einer einheitlichen Schwarzen Erfahrung verworfen. Die Grundlage für politische Aktion kann demnach auch nicht ohne Weiteres in einer solchen Ähnlichkeit der Erfahrung oder den Schlüssen liegen, die daraus gezogen werden.

Der „bemerkenswerte und intensive ideologische Kampf“, der um die Konsense geführt wird, setzt bereits viel früher an als bei der Überzeugungsarbeit politischer Parteien und anderer Staatsapparate. Sie entstehen in der Praxis, in häufig routinisierten Abläufen und bleiben daher auch oft unbewusst. „Die sozialen Akteure sind handelnd, aktiv, doch es ist die Geschichte, die durch sie hindurch handelt, die Geschichte, deren Produkt sie sind.“[13]

Die These, dass die Kämpfe bereits innerhalb der Repräsentationen beginnen, bringt Hall in eine weitere Vermittlerrolle, nämlich hinsichtlich der Staatstheorie: und zwar zwischen der undogmatisch- marxistischen Tradition von Poulantzas und dem genetischen Strukturalismus Pierre Bourdieus. Auch wenn Bourdieu selbst Poulantzas mehrfach kritisiert und Poulantzas und seine AnhängerInnen Bourdieu eher ignoriert haben, so haben sie doch in Fragen des Staates einiges gemeinsam. Sie weisen die Miliband’sche Vorstellung vom Staat als Instrument ebenso zurück wie die hegelianisch-libertäre, die den Staat als Subjekt versteht. Sie sehen beide die Verschiebung von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen als zentrale Dynamik des Staates. Bourdieu allerdings betont dabei, anders als Poulantzas, die kulturelle Ebene, den „außerordentlichen symbolischen Gewaltakt“[14], der in der Angleichung von Denk- und Wahrnehmungsformen besteht und jeder ökonomischen Funktion des Staates vorausgeht.

Die Fragen nach den Repräsentationsregimes und dem Symbolischen führen sicherlich nicht zu Antworten auf alle Staatsfragen. Aber gestellt werden müssen sie, um die Formierung der Konsense angemessen zu begreifen. Was den Staat so komplex macht, ist ja seine vielfältige Wirkungsweise in sehr unterschiedlichen Bereichen, von denen die wenigsten im Alltag hinterfragt werden (können): von der Industrienorm für Papier über die Schulferien, die Rechtschreibung, die Fernsehnachrichten, die Handelsabkommen bis hin zur Garantie für die Gültigkeit der Kalender. „Es ist Konsens“, sagt Bourdieu in seiner Staatsvorlesung, „ich kenne keinen Anarchisten, der nicht die Uhr umstellt, wenn wir zur Sommerzeit übergehen, der nicht ein ganzes Bündel von Dingen als selbstverständlich akzeptiert, die letztlich auf die Staatsmacht verweisen.“[15]


Jens Kastner ist Soziologe und Kunsthistoriker und unterrichtet am Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften der Akademie der bildenden Künste Wien.


[1] Vg. Meeting Stuart Hall. Zu Wort kommen Sara Ahmed, Gargi Bhattacharyya, Yasmin Gunaratnam, Vera Jocelyn, Patricia Noxolo, Pratibha Parmar, Ann Phoenix, Nirmal Puwar und Suzanne Scafe,
http://mediadiversified.org/ 2014/02/14/meeting-stuart-hall/

[2] Stuart Hall: Nicos Poulantzas: Staatstheorie. In: Ders.: Populismus – Hegemonie – Globalisierung. Ausgewählte Schriften 5. Argument Verlag, Hamburg 2014, S. 89–100.

[3] Bob Jessop: Dialogue of the deaf: reflections on the Poulantzas-Miliband debate. In P. Wetherly, C.W. Barrow, and P. Burnham (Hg.): Class, Power and the State in Capitalist Society: Essays on Ralph Miliband. Palgrave, Basingstoke 2007, S. 132–157. http://bobjessop.org/2014/01/14/dialogue-of-the-deaf-some-reflections-on-the-poulantzas-miliband-debate/

[4] Ralph Miliband: Der Staat in der kapitalistischen Gesellschaft. [1969] Suhrkamp, Frankfurt am Main 1975, S. 71.

[5] Zit. n. Hall 2014, S. 90.

[6] Pierre Bourdieu: Über den Staat. Vorlesungen am Colège de France 1989–1992. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014, S. 191.

[7] Nicos Poulantzas: Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Autoritärer Etatismus. VSA, Hamburg [1978] 2002, S. 231ff.

[8] Ebd., S. 238.

[9] Hall 2014, S. 99.

[10] Poulantzas 2002, S. 182.

[11] Alex Demirovic: Nicos Poulantzas. Aktualität und Probleme materialistischer Staatstheorie. Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2007, S. 81.

[12] Stuart Hall: Neue Ethnizitäten. In: Ders.: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2. Argument Verlag, Hamburg 1994, S. 15-25, hier S. 17.

[13] Bourdieu 2014, S. 179.

[14] Bourdieu 2014, S. 132.

[15] Bourdieu 2014, S. 26.