Spatium Libre im Buch

Den Zwischenraum in die Kulturtheorie einzuführen war als Erweiterung marxistischer Klassentheorie gedacht: Karen Struve zeigt in ihrer Einführung in das Werk des postkolonialistischen Theoretikers Homi K. Bhabha auf, dass dieser das Klassen – konzept im Anschluss an den marxistischen Literaturwissenschaftler Fredric Jameson ergänzen wollte. Um die sozialen Differenzen in globalisierten Gesellschaften zu erfassen, musste demnach „anderen zwischenräumlichen Konzeptionen“ nachgegangen werden als nur jenen zwischen Kapital und Arbeit. Bhabha interessiert sich fortan für den „Übergang zwischen Polaritäten“ und wird zum lange Zeit tonangebenden Theoretiker des Dazwischen – ein Konzept, dessen Umstrittenheit und dessen Ambivalenz Struve ebenfalls darstellt. In Zwischen den Klassen macht sich Chantal Jaquet an die „Analyse der Ursachen der Nicht-Reproduktion“, widmet sich also der Frage, wann und unter welchen Umständen es gelingt, den sozialen Vorgaben der Klassengesellschaft zu entfliehen. Sie diskutiert Ehrgeiz, externe Unterstützung, Anpassungsfähigkeit und andere Voraussetzungen für den Wechsel der Klasse. Trotz der nie abzustreifenden Scham, trotz der emotionalen Ortlosigkeit des Dazwischen ist der/die Klassenübergänger* in aus der Sicht Jaquets „eine Figur der Befreiung aus einer unerträglichen Lage“. Das Wechseln zwischen den Klassen will Jaquet aber nicht bloß als individuellen sozialen Aufstieg verstanden wissen. Es geht ihr um die Abschaffung von Klassenschranken an sich. Um die sozialräumliche Reproduktion und die Möglichkeiten ihrer Abschaffung geht es auch der marxistisch inspirierten Geographie. Sie hatte den Spatial turn, die raumtheoretische Wende in den Kultur- und Sozialwissenschaften, von Anfang an mit geprägt. Der neu aufgelegte Band von Belina und Michel versammelt Grundlagentexte von David Harvey, Doreen Massey u.a., die den Raum als Effekt sozialer Kämpfe interpretieren und Interventions – möglichkeiten in diese Kämpfe diskutieren. Im von Uwe Wirth herausgegebenen Sammelband steht die Frage „Wie bewegt man sich im ‚Dazwischen‘?“ im Mittelpunkt der literatur- und kulturwissenschaftlichen Analyse. Der Zwischenraum wird dabei, betont Wirth, in zweierlei Bedeutung vermessen: Erstens als „abstrakter Raum, als Sphäre der Überblendung von verschiedenen kulturell kodierten Lebensweisen und Weltanschauungen“ und zweitens als „konkreter Ort der Begegnung“. Möglicherweise treffen sich beide Ebenen hin und wieder in der politischen Aktion. Zum Frauen*streik im Juni 2019, bei dem allein in Zürich 160.000 Menschen auf die Straße gingen, erschien eine Zeitschrift mit dem Titel Zwischenräume. Solidarität und Widerstand. Darin wird u.a. betont, dass das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Lebensbedingungen im politischen Streik Räume des Diskutierens, Mitfühlens und Mitmachens fülle. „Es sind“, heißt es schließlich, „die Zwischenräume, in denen solidarische Haltungen entstehen.“


Jens Kastner ist Soziologe und Kunsthistoriker und unterrichtet an der Akademie der bildenden Künste Wien


Bernd Belina / Boris Michel (Hg.): Raumproduktionen. Beiträge der Radical Geography. Eine Zwischenbilanz. 4., um ein Vorwort erweiterte Auflage, Verlag Westfälisches Dampfboot: Münster 2019.

Chantal Jaquet: Zwischen den Klassen. Über die Nicht-Reproduktion sozialer Macht. Konstanz University Press: Konstanz 2018.

Kollektiv Frauen*streik / Feministischer Streik Zürich (Hg.): Zwischenräume: Solidarität und Widerstand. Eine Zeitung zum Feministischen Streik / Frauen*streik vom 14. Juni 2019 und darüber hinaus!

Karen Struve: Zur Aktualität von Homi K. Bhabha. Einleitung in sein Werk. Springer Verlag: Wiesbaden 2013.

Uwe Wirth (Hg.): Bewegen im Zwischenraum. Berlin 2012 (Kulturverlag Kadmos).