„…Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen…“

Bildpunkt: Scheitern kann verschiedene Effekte haben, es kann zum Aufgeben führen, zu Depression und kollektiver Melancholie. Es kann aber auch als Ausgangspunkt für Lernprozesse gesehen und gelebt werden, die Ratgeberliteratur ist voll von Aufrufen dazu, das „Scheitern als Chance“ zu betrachten. Ist es nicht auch eine neoliberale Anrufung, immer und aus allem einen produktiven Neustart zu machen? Sollten wir das Scheitern nicht auch einfach mal betrauern und nichts tun?

Sophia Rohwetter: Samuel Becketts bekannte Zeilen aus seinem späten Prosatext Worstward Ho – „Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better“ – sind in der heutigen Start-Up-Venture-Culture durch Inwertsetzung und Memefication tatsächlich zu einer Art neoliberalem Mantra mutiert. Wie ihr sagt, endet das Scheitern nach der Logik „Scheitern als Chance“ nie mit dem Scheitern, vielmehr wird es als eine notwendige Erfahrung auf dem Weg zur erfolgreichen kapitalistischen Selbstverwirklichung behauptet. Aber schreibt nicht gerade Beckett von dem Scheitern als Scheitern? Das Scheitern bleibt bei ihm bedeutungs- und erfolglos, es produziert eine Leere, eine absolute Negativität, die sich der sprachlichen Repräsentation, und vielleicht der Wertschöpfung entzieht. Es scheint mir dabei allerdings weniger um ein Betrauern des Scheiterns zu gehen, als um den ständig verfehlten Versuch, der Erfahrung des Scheiterns eine Form zu geben.

Bernd Drücke: Trauern ist wichtig, um daraus zu lernen und nicht zu resignieren. Ich habe 1995 in Münster mit Freund:innen und Eltern aus selbstorganisierten Kitas versucht, eine Freie Alternativschule (FAS) mit anarchistischer Tendenz zu initiieren. Nach vier Jahren intensiver, ehrenamtlicher Arbeit standen wir 1999 kurz vor der Eröffnung, hatten einen Finanzierungsplan und ein „wasserdichtes“ Konzept. Dann stellte sich heraus, dass das Gebäude, das wir anmieten wollten, ungeeignet war. Das Zeitfenster, um das Projekt auf die Beine zu stellen, hat sich geschlossen. Unsere Kids sind dann, statt in eine selbstorganisierte Freie Schule, in eine „normale“ Grundschule gegangen. Das habe ich lange betrauert und dann „abgehakt“. Auch aus solchen Niederlagen können wir lernen. In der kapitalistischen Leistungsgesellschaft steht der „Erfolg“ im Vordergrund, „Misserfolg“ wird als Versagen gebrandmarkt. Dieses Denken wird uns anerzogen. Es wird den Menschen aber nicht gerecht. Als Anarchist möchte ich dieses Denken ändern und den Kapitalismus und jede Herrschaft überwinden. Das wäre dann ein ganz anderer „Neustart“.

Bildpunkt: Sophia, du hast dich in deiner Masterarbeit mit dem Scheitern im Werk des US-amerikanischen Künstlers Mike Kelley beschäftigt. In welcher Form taucht das Scheitern da auf und was ist das Besondere daran?

Sophia Rohwetter: Frei nach Becketts „To be an artist is to fail as no other dare fail“ setzte Mike Kelley das Scheitern an den Beginn und als Bedingung seiner künstlerischen Praxis. Für Kelley, aufgewachsen in einer katholischen Arbeiterfamilie in einem Vorort von Detroit, die Jugendjahre im Umfeld der Motown-Freak-Kultur und des White-Panther-Anarchismus verbracht, verkörperte die Figur des Künstlers die Unmöglichkeit des Erfolgs, die Aussicht auf das Scheitern. Aus dem Scheitern als gegenkultureller und antiheroischer Pose entwickelte er von den späten 1970er Jahren bis zu seinem Selbstmord im Jahr 2012 eine Ästhetik des Scheiterns, die das Scheitern in einer intermedial angelegten Praxis als thematisches Leitmotiv und als formal-ästhetisches Problem verfolgte. Durch künstlerische Gesten der Unvollkommenheit, Deformation, Formlosigkeit, Abjektion und Perversion erzählt Kelleys Ästhetik des Scheiterns vom alltäglichen Versagen, von adoleszenter Unzulänglichkeit, von gescheiterten Glaubenssystemen, von unbewussten Fehlleistungen, sexuellen Störungen, verfehlten Verdrängungen, von dem ständigen Versagen der Erinnerung, und letztlich von der Dysfunktionalität und dem Scheitern der Kunst selbst. Kelleys Ästhetik des Scheiterns sollte ihn in den 1990er Jahren schließlich zum Erfolg führen und aus dem provinziellen Anarcho-Proletarier einen gefeierten Gagosian-Superstar machen. Selbst oder gerade dann, wenn das Scheitern zum Ziel erklärt wird, ist die Möglichkeit des Erfolgs nie ausgeschlossen.

Bildpunkt: Bernd, du bist Redakteur einer Zeitschrift mit anarchistisch-pazifistischer Ausrichtung, der seit 1972 existierenden graswurzelrevolution. Der Anarchismus ist, trotz aller organisatorischen Erfolge in Europa und in Lateinamerika in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, gesamtgesellschaftlich ziemlich bedeutungslos. Von einer gewaltfreien und herrschaftslosen Gesellschaft, auf die es die Zeitschrift abgesehen hat, sind wir derzeit wohl so weit entfernt wie selten. Demnach müsstest du ein Experte des Scheiterns sein. Siehst du dich so?

Bernd Drücke: Da muss ich euch erst einmal widersprechen. Ich denke nicht, dass der Anarchismus bedeutungslos ist. Im Gegenteil. Es gibt leider keine anarchistische Massenbewegung, aber immer noch eine kleine radikale Minderheit, die für die Idee einer gewaltfreien, herrschaftslosen Gesellschaft brennt. Wir brauchen eine egalitäre Gesellschaft, die gegenseitige Hilfe, Selbstorganisation, Emanzipation, freie Assoziation und Ökologie lebt. Wie sonst kann das Artensterben, die Klimakatastrophe und eine zunehmende Militarisierung und Faschisierung gestoppt werden?
Die GWR ist seit 1972 ein basisdemokratisch organisiertes, unabhängiges Sprachrohr aus den und für die sozialen Bewegungen. Sie berichtet von unten und erreicht Menschen auch außerhalb der anarchistischen und gewaltfreien Szene. Die gewaltfreien Aktionskonzepte, die in der Graswurzelbewegung und ihrem Sprachrohr entwickelt wurden, hatten großen Einfluss zum Beispiel auf die Anti-Atom-Bewegung und den erfolgreichen Widerstand gegen Atomindustrie und -staat.
Bin ich ein „Experte des Scheiterns“? Jein. Vielleicht eher eine Art Sisyphos, der seit Ende 1998 zusammen mit den GWR-Autor*innen und -Mitherausgeber*innen Monat für Monat eine neue anarchistische Zeitschrift produziert und sie den Berg hinauf schiebt. Immer wenn die neue Ausgabe fertig ist, mache ich einen Luftsprung und denke: „Wieder ein wunderbarer Tropfen Anarchismus im trüben See des Kapitalismus. Es geht weiter!“ Tatsächlich habe ich mir Albert Camus’ Interpretation des Sisyphos zu eigen gemacht: „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“

Bildpunkt: Scheitern ist relativ und es gibt keine objektiven Maßstäbe, an denen es gemessen werden könnte. Dennoch sind Niederlagen und Fehlschläge alltägliche Erfahrungen, für künstlerischen Aktivismus nicht weniger als für emanzipatorische soziale Bewegungen überhaupt. Inwiefern ist Scheitern als individuelle Erfahrung in sozialen Prozessen kommunizierbar und wie lässt sich mit unterschiedlichen Wahrnehmungen des Scheiterns umgehen?

Bernd Drücke: Es kommt darauf an, die unterschiedlichen Wahrnehmungen zu vermitteln. Wenn ich mit anderen ein Haus besetze, das nach wenigen Wochen geräumt wird, dann wird das von vielen als Scheitern interpretiert. Ich kann es aber auch als temporäre autonome Zone interpretieren, in der für eine bestimmte Zeit ein kollektiv genutzter Freiraum entsteht und die Utopie einer freiheitlich-sozialistischen Gesellschaft ein Stück weit gelebt werden kann.

Sophia Rohwetter: Die Historikerin Hannah Proctor geht in ihrem neuen Buch Burnout. The Emotional Experience of Political Defeat (2024) einer ähnlichen Frage nach. Anhand von eigenen Erfahrungen und Beispielen aus der Geschichte radikaler linker Bewegungen fragt sie, wie sich politische Akteur:innen isoliert, im Kollektiv oder im Konflikt durch die psychischen Nachwirkungen politischer Niederlagen gearbeitet haben. Damit verbunden ist die Frage nach dem revolutionären Subjekt: Das Bild des idealen revolutionären Subjekts ist das eines Individuums, das seine persönlichen Leiderfahrungen und psychischen Konflikte zugunsten des Kollektivs aufgibt und Emotionen in politische Handlungsfähigkeit kanalisiert. Dagegen insistiert Proctor auf der Möglichkeit, ja der Notwendigkeit, emotionale Erfahrungen des Scheiterns sozialer Bewegungen anzuerkennen.

Bildpunkt: Angesichts der Klimakatastrophe und des Aufstiegs der Ultrarechten können wir uns das Scheitern ökologischer und antifaschistischer Haltungen eigentlich gar nicht leisten. Gibt es Techniken, die aus eurer Sicht das Weitermachen nach dem Scheitern besonders gut gewährleisten können?

Bernd Drücke: Eine ganz wichtige Technik ist auch der Humor, der Dadaismus, die Fähigkeit, auch über sich selbst zu lachen und sich selbst nicht zu ernst zu nehmen. Aber auch die Herrschenden zu verlachen. Der König ist nackt. Es wird ja bekanntlich ein Lachen sein, das sie besiegt. Um den immer wieder aufkeimenden Faschismus und die weltweite Militarisierung zurückzudrängen, brauchen wir eine global vernetzte antifaschistische und antimilitaristische Bewegung, eine Gegenöffentlichkeit und auch eine lokale Bündnispolitik. Die Klimakatastrophe und das Artensterben bedrohen auch die Existenz unserer Spezies. Die nach Corona ein bisschen eingeschlafene außerparlamentarische und globale Bewegung für Klimagerechtigkeit kann aber wiederbelebt werden. Die Weltgesellschaft ist gescheitert, die in Paris beschlossenen Klimaziele wurden nicht erreicht. 2024 war es bereits 1,55 Grad wärmer als im vorindustriellen Zeitalter. Und angesichts des ungebremsten CO2-Ausstoßes wird es noch heißer. Das ist katastrophal. Es kommt jetzt auch darauf an, klar zu machen, dass das Problem der Kapitalismus ist.

Sophia Rohwetter: Die Gewalt gegen die palästinensische Zivilbevölkerung in Gaza, die u.a. von etablierten Historikern wie Amos Goldberg und Omer Bartov als genozidal eingestuft wird, und das indifferente Schweigen über diese Gewalt in großen Teilen der (deutschsprachigen) Linken zeigen nicht nur, dass wir uns das Scheitern antifaschistischer „Haltungen“ nicht nur „nicht leisten“ können, das politische Scheitern „kostet“ Menschenleben, es tötet. Um weitermachen zu können, d.h. um für eine antifaschistische Praxis einzutreten, die über Haltungen und Techniken hinausgeht, bedarf es einer Bekämpfung der Indifferenz. 


Sophia Rohwetter ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien, wo sie zur Geschichte und Theorie moderner und zeitgenössischer Kunst forscht und lehrt.

Bernd Drücke ist promovierter Soziologe und Redakteur der Zeitschrift graswurzelrevolution (graswurzel.net). Er lebt in Münster.

Das „Gespräch“ wurde Anfang November 2024 von Sophie Schasiepen und Jens Kastner per E-Mail geführt.