Scheitern kann individuelle Alltagshandlungen betreffen und kollektive geschichtliche Entwicklungen, praktische Anforderungen ebenso wie theoretische Konzepte und ästhetische Vorstellungen. Darüber hinaus stellen Niederlagen und Fehlschläge selbst auch die Maßstäbe in Frage, nach denen sie konstatiert werden. Und wer entscheidet, was als erfolgreich und was als gescheitert gilt? Der Schriftsteller Charles Pepín findet Scheitern schön. Das Leiden am Scheitern scheint es nicht zu geben, die „positive Kraft der Krise“ führt als Beschwörungsformel durch seine Philosophie- und Alltagsgeschichte der Fehlschläge und Niederlagen. Tennisspieler, Start Ups und unverdrossene Wissenschaftler (alle meist männlich) werden zu Agenten des positiven Scheiterns, denn schließlich lernen sie aus ihren Fehlern und verbessern damit ihre Fähigkeiten. Ganz anders sieht das Jacques Derrida. Ihm nach ist das Scheitern, anders als Leute wie Pepín und die mannigfaltige Ratgeberliteratur zum Thema glauben machen wollen, eben keine Chance. Anders als in neoliberalen Verbesserungsanrufungen und in fortschrittsoptimistischen Geschichtsmodellen findet Scheitern gerade da statt, wo Reflexivität unmöglich wird und keine Lernprozesse mehr drin sind. So Derrida, dessen Philosophie des Scheiterns Manuel Reinhard nachzeichnet. Eine solche Philosophie erhält ihre Relevanz dadurch, dass sie eine „Reflexion auf die Grenzen der Reflektibilität“ anbietet. Reinhard definiert die Philosophie des Scheiterns im Anschluss an Derrida als eine Art Meta-Agenda, nämlich als „Reflexion von gesamtgesellschaftlichen Lernprozessen und ihren Bedingungen“. Gesteigerte Reflexivität ist auch für Hendrik Wallat ein Moment, das aus dem Scheitern heraus erwächst. Seine politisch-philosophischen Essays greifen verschiedene Themen der marxistischen Theoriegeschichte auf und reflektieren sie mit libertär-sozialistischen Sympathien. Das Scheitern der Befreiung macht Wallat dabei als geschichtlichen „Erfahrungskern“ der Kritischen Theorie aus. Vertane Realisierungsmöglichkeiten und pragmatische Reduktion Hin oder Her, das konstatierte Scheitern dient bei Wallat nicht der Verabschiedung der Befreiung als Horizont, „sondern geschieht aus Treue zu ihrer Idee“. Wenn Scheitern als „dauerhafte Handlungsunfähigkeit“ begriffen wird, wie der Soziologe Matthias Junge vorschlägt, stellt es auch die auf erfolgreiche Praxis abonnierten Sozialwissenschaften und linken Geschichtsmodelle in Frage. Das stellt Nicole Alber u.a. in ihrer Studie zum Scheitern als Performance heraus. Der Diskurs des Scheiterns, auch das wird deutlich, bringt die Dichotomie von Versagen und Erfolgen, von Niederlage und Gewinn immer wieder neu hervor. Wie das Scheitern in der Kunst reflektiert und bearbeitet wird, zeigt Alber am Beispiel der künstlerischen Arbeiten von Bas Jan Ader, Cathy Sisler und Francis Alÿs auf. Die Kunst selbst betrachtet Stefan Ripplinger als „scheiterndes Projekt“. Dass die Kunst sich in die creative industries eingepasst hat, ist ein (wieder einmal) letztes Zeichen für ihre prinzipielle Vergeblichkeit, die mit ihrer Warenförmigkeit eingesetzt hatte. Ripplingers Essay ist eine bereichernde Intervention in die verarmende Kunsttheorie und zugleich eine melancholische Warnung.
→ Nicole Alber: Scheitern als Performance. Vom Versagen und seiner politischen Relevanz in der Videokunst. Bielefeld 2021 (Transcript Verlag).
→ Manuel Reinhard: Philosophie des Scheiterns. Jacques -Derridas aporetische Schriften. Weilerswist 2017 (Velbrück Wissenschaft).
→ Charles Pépin: Die Schönheit des Scheiterns: Kleine -Philosophie der Niederlage. München 2017 (Carl Hanser Verlag).
→ Stefan Ripplinger: Vergebliche Kunst. Berlin 2016 (Verlag Matthes & Seitz)
→ Hendrik Wallat: Das Scheitern der Befreiung: Politisch–philosophische Essays. Münster 2017 (Unrast Verlag).
Jens Kastner ist Soziologe und -Kunsthistoriker und unterrichtet an der Akademie der bildenden Künste Wien, www.jenspetzkaster.de