Privilegienkritik: Raus aus der Nische!

Das Privileg hat ein miserables Image. Und das aus gutem Grund. Privilegien verstoßen gegen wertvolle Errungenschaften moderner Gesellschaften – etwa Gleichheit und Gerechtigkeit. Der Vorwurf, privilegiert zu sein, trifft nicht so hart wie jener, ein Rassist, eine Antisemitin oder queerfeindlich zu sein; aber – privilegiert zu sein, ist ein Makel. Von den eigenen Privilegien wird denn auch meist im Tonfall des Bedauerns gesprochen. 

Genau dies tat Robin Peckhold von den Fleet Foxes, als er von der taz interviewt wurde und seine künstlerische Haltung erläuterte. Er demonstrierte sein Schuldbewusstsein: „Als weiße männliche Person kann ich nur versprechen, dass ich so hart arbeiten werde, wie ich kann, um, in den Grenzen meines Geschmacks, das bestmögliche Ergebnis zu erzielen. Im völligen Bewusstsein meines Privilegs, und dies nicht zu verschwenden oder mich darauf auszuruhen.“ Das ist der Sound, in dem heute in popkulturellen, künstlerischen, aktivistischen und akademischen Kreisen von Privilegien gesprochen wird. Und genau diese Redeweise markiert ein Problem. Sie zeigt, dass die Kritik an Privilegien in eine veritable Krise geraten ist und in Gefahr steht, ihre politische Brisanz einzubüßen. 

Es waren Bildungssoziologen, die in den 1960er und 1970er Jahren auf den Terminus Privileg zurückgriffen, um die Verstrickungen von Bildungseinrichtungen in die Reproduktion sozialer Ungleichheit aufzudecken. Ralf Dahrendorf und Pierre Bourdieu geißelten die ständischen Strukturen des Bildungswesens und deckten die Praktiken auf, mit denen Eliten kulturelles Kapital vererben. Beide attackierten Bildungsprivilegien und die Ausgrenzung gesellschaftlicher Gruppen (vgl. Rieger-Ladich 2022). 

Der Kampf gegen Diskriminierung war auch das Ziel des Combahee River Collective, eines Zusammenschlusses schwarzer und lesbischer Frauen aus Boston. 1977 veröffentlichten sie ein Manifest, das die Geburtsstunde der emanzipatorischen Identitätspolitik markiert. Die Aktivistinnen fühlten sich doppelt verraten: Weder konnten sie bei ihren schwarzen „Brüdern“ darauf vertrauen, dass diese sie im Kampf gegen Sexismus unterstützen würden, noch konnten sie damit rechnen, dass sich die weißen „Schwestern“ als Weggefährtinnen beim Kampf gegen Rassismus erweisen würden. Und so hielten sie fest: „Uns ist bewusst, dass wir die einzigen Menschen sind, denen wir wichtig genug sind, um beständig für unsere Befreiung zu kämpfen.“ (vgl. -Susemichel/Kastner 2022; McIntosh 2024). 

Ruft man sich diese Projekte in Erinnerung, wird deutlich, dass Privilegienkritik heute in der Gefahr steht, ihren Biss zu verlieren. Statt hegemoniale Diskurse zu bekämpfen, systemische Formen der Benachteiligung zu skandalisieren und nach Formen solidarischen Handelns zu suchen, rückt meist das Individuum ins Zentrum. Auf der Tagesordnung stehen beichtähnliche Rituale, in denen Studierende, Aktivist:innen und Künstler:innen ihr persönliches Unwohlsein artikulieren – und zu diesem Zweck den Begriff des Privilegs bemühen. 

Weil mit solchen Performances politisch nichts zu gewinnen ist, benötigen wir einen Neustart der Privilegienkritik. Dabei sehe ich drei Herausforderungen. 

1. Wir müssen die Suche nach den Ursachen der eklatant ungleichen Verteilung von Privilegien intensivieren. An die Stelle pathetischer „Schuldeingeständnisse“ muss die Erforschung jener Strukturen treten, welche Privilegierungen produzieren. Statt also Individuen ins Zentrum zu rücken und deren Handlungen zu moralisieren, muss die Frage nach den Strukturen kapitalistischer Gesellschaften aufgeworfen werden. Das „Checken von Privilegien“ trägt lediglich dazu bei, „das Bestehen der Ungleichheit festzustellen – es hilft uns aber nicht, diese zu verstehen oder zu bekämpfen“ (Choonara/Prasad 2020). 

 2. Wir müssen neu über Bündnisfähigkeit nachdenken – und über das, was Albrecht Koschorke (2022: 483) „Modelle eines selbst-reflexiven Für-Andere-Einstehens“ nennt. Dem Tribalismus geschlos-sener Gruppen kann nur dann entgegenwirkt werden, wenn es gelingt, den Begriff der Gleichheit zu rehabilitieren und dort Ähnlichkeiten zu suchen, wo bislang nur Differenzen vermutet wurden. Gelänge dies, könnten die sich verschärfenden Krisen zum Auslöser einer Bewegung werden, die uns zu einem „vertieften Gattungsbewußtsein“ verhilft (ebd.). 

3. Wir müssen deutlich machen, dass jene Regime der Ungleichheit, welche Privilegien zuteilen bzw. entziehen, von keinerlei höherer Logik gesteuert werden. Hier regiert die nackte Kontingenz, die grausame Beliebigkeit. „Der Grund für seine Privilegierung“, so Lukas Bärfuss (2022: 67), „ist zufällig. Jeder muss damit rechnen, irgendwann als Teil einer Minderheit diskriminiert zu werden.“ Kurz: Niemand ist davor gefeit, eines Tages selbst zum Ziel von Hohn, Gewalt und Verfolgung zu werden. Das gilt es in Erinnerung zu rufen, auch wenn die Verletzbarkeit zwischen Männern, Frauen und Angehörigen der queeren Community, zwischen Bürger:innen der Länder des Globalen Nordens und des Globalen Südens höchst ungleich verteilt ist. 

Daher gilt: Beim Kampf gegen Privilegierungen sind alle gefragt. Also nicht nur jene, die aufgrund der herrschenden Verhältnisse aktuell diskriminiert, stigmatisiert und ausgegrenzt werden (und auf Beistand angewiesen sind). Jede:m sollte daran gelegen sein, dabei eine Perspektive einzunehmen, die über Partikularinteressen hinausweist. 

Literatur

Lukas Bärfuss: Die Krone der Schöpfung. München 2022 (btb). 
Esme Choonara / Yuri Prasad: Der Irrweg der Privilegientheorie. In: International Socialism 142, 2020, S. 83–110.
Albrecht Koschorke: Identität, Vulnerabilität und Ressentiment. Positionskämpfe in den Mittelschichten. In: Leviathan 50, 2022, S. 469–486. 
Peggy McIntosh: Weißsein als Privileg. Die Privilege Papers. -Ditzingen 2024 (Reclam).
Markus Rieger-Ladich: Das Privileg. Kampfvokabel und Erkenntnisinstrument. Ditzingen 2022 (Reclam).
Lea Susemichel / Jens Kastner: Identitätspolitiken. Konzepte und Kritiken in Geschichte und Gegenwat der Linken. 2. Auflage. -Münster 2020 (Unrast).


Markus Rieger-Ladich ist Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Tübingen und lebt in Überlingen am Bodensee.