Es gibt keine Ursprünglichkeit und keine Essenz, Identität ist eine Positionierung. Und zwar eine dezentrierte, wie Linda Supik titelgebend in der nach wie vor einzigen deutschsprachigen Monographie zu Stuart Hall herausstellt. Die gut zu lesende Einführung diskutiert auch die politischen Implikationen der Abwendung vom Essentialismus: Bedeutung, nicht nur die von Identität, werde „generell erst im Bereich des Kulturellen konstituiert“. Stuart Hall selbst erklärt in dem wunderbar einführenden Studienbuch Representation – mit weiteren Beiträgen zu Theorie und Gebrauch von Medien, Kunst und Popkultur –, wie diskursive Formationen Subjektpositionen herstellen, „from which they become meaningful and have effects“. Subjektivierung erscheint so zuallererst als eine Unterwerfung unter die Regeln komplexer Relationen von Macht und Wissen. An anderer Stelle hat Hall solche Prozesse als Dezentrierung des Subjekts beschrieben. Was bleibt, einmal dezentriert, vom Subjekt? Und wo, fragt Judith Butler in dem Reader Without Guarantees im Anschluss an Hall, lässt sich dann Handlungsfähigkeit (agency) finden? Statt einer Antwort ergeben sich schließlich weitere Fragen. Der Band enthält viele davon, aufgeworfen von namhaften WeggefährtInnen und SchülerInnen Halls, die einmal mehr dessen Disziplinen übergreifenden Einfluss wie auch seine politische Aktualität belegen. Angela McRobbie etwa betont die Wichtigkeit der anti-elitistischen Idee von Bildung, die Hall verfochten hat, Bill Schwarz stellt Halls pionierhafte Rolle für die postcolonial studies heraus, Joe Sim erläutert Halls staatstheoretische Errungenschaften gegen ein „homogenisierendes, reduktionistisches und instrumentalistisches Verständnis“ von staatlichen Institutionen und Bediensteten. Kurz: Ein für politische Kulturtheorie letztlich unverzichtbares Buch. In dem von Dagmar Brunow herausgegebenen Band verweist Simon Dickel in seinem Aufsatz zu Blackness und schwuler Identitätspolitik nebenbei auf den Einfluss Halls auf die deutschsprachige Linke. Seine Texte seien in den 1990er Jahren nicht nur im akademischen Feld, sondern auch in kleinen linken Blättern „neben Texten zu Antifa oder Gorleben“ diskutiert worden. Nanna Heidenreich betont an Halls Auseinandersetzung mit Identitäten den besonderen Umgang mit Geschichte. Dabei gehe es darum „Vergangenheit und ihre Erbschaften nicht konservierend [zu] verwalten, sondern sie mit einer streitbaren Gegenwart ins Gespräch [zu] bringen.“ Und Kathrin Wildner entdeckt Hall als Stadtforscher wieder und diskutiert Gentrifizierungsprozesse vor dem Hintergrund seines Ansatzes. Den „kosmopolitischen Versprechungen und multikulturellen Realitäten“ gegenwärtiger Stadtpolitik widmet sich Hall u.a. im Band 5 der ausgewählten Schriften, die im Argument Verlag dankenswerter Weise seit Jahren erscheinen. In dieser Sammlung von Aufsätzen und Interviews tritt nun weniger der Cultural Studies-Theoretiker als der marxistische Intellektuelle mit seiner Kritik an der neoliberalen Sozialdemokratie und an der „Unterordnung aller sozialen Vorgänge unter das Marktprinzip“ in den Vordergrund.
Jens Kastner ist Soziologe und Kunsthistoriker, Autor von Der Streit um den ästhetischen Blick. Kunst und Politik zwischen Pierre Bourdieu und Jacques Rancière (Wien 2012) und lebt in Wien.
Dagmar Brunow (Hg.): Stuart Hall – Aktivismus, Pop und Politik. Ventil Verlag, Mainz 2015, i.E.
Paul Gilroy, Lawrence Grossberg, Angela McRobbie (Hg.): Without Guarantees: In Honour of Stuart Hall. Verso, London 2000.
Stuart Hall, Jessica Evans, Sean Nixon (Hg.): Representation: Cultural Representations and Signifying Practices. 2. Aufl., Sage Publishers, Los Angeles / London et al. 2013
Stuart Hall: Populismus, Hegemonie, Globalisierung. Ausgewählte Schriften 5. Argument Verlag, Hamburg 2014.
Linda Supik: Dezentrierte Positionierung: Stuart Halls Konzept der Identitätspolitiken. transcript Verlag, Bielfeld 2005.