Es sind Geschichten aus dem britischen Empire am Ende des 19. Jahrhunderts, die Leela Gandhi in der Absicht rekonstruiert, eine „nicht-kommunitaristische Gemeinschaft“ zu entwerfen. Affective Communities durchkreuzen die Binaritäten des Imperialismus. Sie ebnen das Feld für Allianzen zwischen subkulturellem Dissens auf der einen und antikolonialem Anti- Nationalismus auf der anderen Seite. Oder dazwischen. Oder sie sind selbst dieses Feld, das von der postkolonialen Theorie hier entlang der Themen Sex, Fleisch, Gott und Kunst bestellt wird. „Affektive Singularität, anarchistische Relationalität und das Ausgerichtetsein auf Andere sind“, schlägt Gandhi vor, „die konstitutiven Elemente einer utopischen Gemeinschaft, die wir unter dem Zeichen der Freundschaft beschwören“. Ein Grundlagenwerk.
Auch Jacques Derrida hat Fundamente gelegt: An den Zweck des guten Lebens geknüpft, wäre die Freundschaft, schreibt er im Anschluss an Aristoteles, „ursprünglich und durch und durch politisch“. Ist die Freundschaft – ob nun auf Tugend, Nutzen oder Lust beruhend – auch oder gar ausschließlich in der Weise politisch ist, wie es die Feindschaft nach Carl Schmitt ist, konstitutiv und konstituierend? Ist sie der Verwandtschaft ähnlich oder der Verschwörung? Mit Aristoteles jedenfalls wäre sie gegen Schmitt ein nicht instrumentalisierbares Instrument der Demokratie. Nicht gerade leicht zu entziffern, buchstabiert Derrida die Freundschaft durch die Philosophiegeschichte hindurch als Akt und Ereignis aus.
Janosch Schobin meint, Freundschaft lasse sich an sich nicht sinnvoll definieren. Unter dem Begriff versammelten sich eine ganze „Gruppe von Sozialformen“, die häufig nur durch eine „intermediäre Kette“ miteinander verbunden seien. Daher ließe sie sich auch nicht für sich analysieren, sondern nur unter dem Gesichtspunkt eines an sie herangetragenen Gegenstands, wie etwa Politik oder auch der Fürsorge. Auf der Grundlage einer empirischen Untersuchung zu letzterer stellt Schobin Freundschaft als durchaus prekären „Fluchtpunkt multipler sozialer Hoffnungen“ dar, der die Transformation des Wohlfahrtsstaates abfedern soll. Statt des utopischen Potenzials wird hier ganz prosaisch herausgestrichen, die Voraussetzung für ein alterndes Leben im Kreis der FreundInnen sei „die Fähigkeit zur Selbstsorge“.
Auch Foucaults Konzept von Freundschaft, meint Tom Roach, sei alles andere as utopisch gewesen. „Betrug, Distanz, brutale Ehrlichkeit und eine in Entfremdung gründende, unpersönliche Intimität“ seien ihre Ingredienzien. Roach leiht den Titel seines Buches einem Interview mit Foucault von 1981 und beschreibt Freundschaft als geteilte Entfremdung, die als „kommunale Intervention“ in den Politiken der queeren Bewegungen zum Ausdruck gekommen sei. Freud*innenschaft ließe sich schließlich auch als Knotenpunkt affektiven Kapitals beschreiben.
Mit Bezug auf Bourdieus Kapitaltheorie definieren Otto Penz und Birgit Sauer affektives Kapital als „Wahrnehmungs- und Bewertungsressource“, die sich auf die Fähigkeiten bezieht, „Grenzen zu setzen, Wertungen auszusprechen, ethische Einschätzungen vorzunehmen.“ Subjekte wie auch soziale Herrschaftsverhältnisse werden dadurch konstituiert, was in neoliberalen Zeiten, wie Penz und Sauer überzeugend herausarbeiten, eine gesteigerte Bedeutung für die „Herrschafts- und Ungleichheitsproduktion“ bekommt.
Jens Kastner ist Soziologe und Kunsthistoriker und lehrt an der Akademie der bildenden Künste Wien.
Jacques Derrida: Politik der Freundschaft. Frankfurt am Main 2000 (Suhrkamp Verlag).
Leela Gandhi: Affecitive Communities. Anticolonial Thought, Fin-De-Siècle Radicalism, and the Politics of Friendship. Durnham 2005 (Duke University Press).
Otto Penz und Birgit Sauer: Affektives Kapital. Die Ökonomisierung der Gefühle im Arbeitsleben. Frankfurt am Main/ New York 2016 (Campus Verlag).
Tom Roach: Friendship as a Way of Life: Foucault, AIDS, and the Politics of Shared Estrangement. New York 2012 (State University Press of New York).
Janosch Schobin: Freundschaft und Fürsorge. Bericht über eine Sozialform im Wandel. Hamburg 2013 (Hamburger Edition).