Wirklich historisches Denken muss auch das Ende des Kapitalismus in Betracht ziehen, ohne dass ihm deshalb notwendigerweise der Kommunismus folgt. Das meint die Sozialtheoretikerin McKenzie Wark und plädiert für „ein Ende der Links-Melancholie, dieser ewigen Traurigkeit über den ewigen Kapitalismus“. Statt Kommunismus ist laut Wark aber längt etwas Schlimmeres im Gange, das Kapital selbst wurde demnach einer technischen Form der Macht unterworfen, die Wark den Vektor nennt. Die Vektoralistinnenklasse gewinnt aus der Kontrolle von Informationen ihre Macht, die nicht nur die Arbeit ausbeutet, sondern sich auch Kapital und Grundbesitz untergeordnet hat. Grund zur Hoffnung statt zur melancholischen Bedrücktheit sieht Wark im „Vorstellungsvermögen der untergeordneten Klassen“, was angesichts der niederschmetternden Herrschaftsanalyse leider etwas abstrakt bleibt. Enzo Traverso hingegen sieht in der Melancholie eine „verborgene Tradition“ der Linken, die es wiederzuentdecken und zu pflegen gilt. Sie sei eine Stärke, wenn das Eingeständnis der Niederlagen nicht zu Desillusionierung und Zynismus führten. Für Traverso ist linke Melancholie auch nicht der Hemmschuh utopischer Entwürfe, sie müsse vielmehr als eine Kraft verstanden werden, Utopien „neu zu konstruieren“. Dass die linke Melancholie auch eine kritische Tradition hat, zeigte vor deren Verteidigung durch den Historiker Traverso schon Susan Sontag auf. Sie stellt in ihrem Aufsatz Im Zeichen des Saturn im Anschluss an Walter Benjamin schon einige Charakteristika wie Heimlichkeit, Verstellung und Langsamkeit für die Melancholiker*innen heraus, die allesamt nicht gerade Herrschaft stabilisierend wirken. Ihr Text findet sich in der guten, von Peter Sillem herausgegebenen Textsammlung zur Melancholie. Vor Robert Burton, Kierkegaard und Freud stellt der Band interessanter Weise drei Texte aus dem arabischen Raum – Abu Ma`sar, Ishaq Ibn Ìmran und Enzyklopadie der Lauteren Brüder– „ohne die die Melancholie nie zu der Bedeutung gefunden hätte, die sie in der Renaissance besaß und bis heute behalten hat“ (Sillem). In der Schwerpunktausgabe der Zeitschrift Kunst, Spektakel & Revolution zum Thema Dunkelheit und Schwarz in der Kultur findet sich auch das „melancholische Sehnen nach einem vollkommeneren Ort“ (Raether/ Stakemeier) jenseits der Warenförmigkeit als ein zentrales Motiv (romantischen) künstlerischen Schaffens. Der ungarische Literatur- und Kunsttheoretiker Lászlo Földényi zeichnet in seinem umfassenden Werk die „innere Verbundenheit zwischen der neuzeitlichen Kunst und der Melancholie“ vor allem im Hinblick auf die Renaissance nach. Außergewöhnlichkeit, die fragliche Ziel- und Sinnlosigkeit des Tuns, das Scheitern an den unendlichen Ansprüchen und Einsamkeit sind ihre Bindemittel. Auch wenn er eher anthropologisch entlang der Philosophiegeschichte argumentiert, sagt Földényi der Melancholie eine gewisse Feindschaft gegenüber der Ordnung nach, wie es der Soziologe Wolf Leppenies in Melancholie und Gesellschaft (1969) schon getan hatte. „Die neuzeitliche Melancholie“, so Földényi, „bedeutet zugleich Untätigkeit, Passivität, aber auch stillschweigenden Protest gegen die bestehende Welt“.
Jens Kastner ist Soziologe und Kunsthistoriker und unterrichtet an der Akademie der bildenden Künste Wien. www.jenspetzkastner.de
Literatur:
László F. Földényi, Melancholie. Berlin 2020 (Matthes & Seitz).
Kunst, Spektakel & Revolution, Broschur #7, Dunkelheit und Schwarz in der Kultur. Hamburg 2020 (Katzenberg Verlag).
Peter Sillem (Hg.), Melancholie oder Vom Glück, unglücklich zu sein. Ein Lesebuch. Frankfurt am Main 2016 (S. Fischer Verlag).
Enzo Traverso, Linke Melancholie. Über die Stärke einer verborgenen Tradition. Münster 2019 (Unrast Verlag).
McKenzie Wark, Das Kapital ist tot. Leipzig 2021 (Merve Verlag).