Bildpunkt: Jelka und Jonathan, im Shop von Sea-Watch e.V. gibt es ein T-Shirt mit der Aufschrift „Defend Solidarity“ zu kaufen. Was heißt es aus eurer Sicht, Solidarität zu verteidigen und inwiefern ist das (wieder) notwendig?
J.K. & J.W.: Solidarität zu verteidigen war nie unser Ziel, unser Ziel war und ist es, solidarisch zu sein mit Menschen auf der Flucht, uns für Menschenrechte einzusetzen und auf die katastrophalen Auswirkungen europäischer Abschottungspolitik aufmerksam zu machen. Dass wir uns jetzt für das Retten von Menschen rechtfertigen und verteidigen müssen, hätte niemand von uns vor ein paar Jahren für möglich gehalten. Bei dem andauernden Kampf gegen Kriminalisierung von Seenotrettung ist das eigentliche Problem vollkommen aus dem Fokus geraten: nämlich die Kriminalisierung von Migrant*innen der südlichen Hemisphäre. Dieses Europa lässt wissentlich Menschen im Mittelmeer ertrinken mit dem zynischen Kalkül damit Migrationszahlen zu senken. Defend Solidarity entstand als Einstellung, als Trotz gegenüber allen Diffamierungen und Verleumdungen, dabei ist vor Allem wichtig, dass es nicht einfach um Seenotrettung geht, sondern um eine Grundhaltung in der Zivilbevölkerung.
Bildpunkt: Boris, in einem Interview mit der Zeitschrift maldekstra sagst du bezogen auf die internationale Solidarität, wir seien wieder da, „wo die IAA angefangen hat“. Die IAA ist die Internationale Arbeiterassoziation, auch als Erste Internationale bekannt, die sich 1864 zusammenfand. Das klingt, nach all den solidarischen Kämpfen der letzten 150 Jahre, nach einem niederschmetternden Befund. Was meinst du damit?
B.K.: Ich finde die Aussage nicht so niederschmetternd. Es sollte eher eine Kontextbeschreibung sein. Nach der Niederlage des etatistischen Sozialismus im kurzen 20. Jahrhundert zwischen 1917 und 1989 gibt es heute keine sozialistische Staatlichkeit mehr, die die Politik einer Internationalen so dominieren würde wie es in der Kommunistischen Internationale der Fall war. Heute gibt es nur einen weltweiten Kapitalismus, den es zu überwinden gilt. In dieser Hinsicht sind wir wieder in einer weltpolitischen Situation wie zur Zeit der Gründung der IAA. Deshalb finde ich es interessant, sich die Strategien der IAA genauer anzusehen. Auf dem Genfer Kongress wurde 1866 zum Beispiel eine globale Kampagne zur Durchsetzung des 8-Stunden-Tages gestartet, auch um die nationalstaatliche Konkurrenz in der entstehenden Arbeiter*innenbewegung zu überwinden. Es war die erste Initiative zur Durchsetzung Globaler Sozialer Rechte. Genau davon brauchen wir heute mehr.
Bildpunkt: Der globale Aufstieg des rechten Ultranationalismus ist viel diskutiert worden. Ein Aspekt dabei ist sicherlich, dass eine partikulare Solidarität des Nationalen einer universalistischen Solidarität entgegengestellt wird. Die eine fordert „die unsrigen zuerst!“, die andere will Hilfe und Unterstützung nicht an Zugehörigkeiten binden. Warum entscheiden sich eurer Meinung nach wieder viele Menschen eher für die restriktive, ausschließende Variante von Solidarität? Ist das überhaupt noch Solidarität?
J.K. & J.W.: Nein, es ist keine Solidarität. Es geht nicht schlicht um Gemeinschaftlichkeit dabei, sondern auch um die äquivalenten Werte und die Einforderung gleicher Rechte für alle – ein Support derer, die weniger privilegiert sind als wir. Solidarität beschreibt nicht nur ein Gemeinschaftsgefühl, sondern auch die Idee ethischer Grundwerte. „Wir zuerst“ ist das Gegenteil von solidarischem Denken – es ist ein Verkriechen hinter Mauern und die Entscheidung gegen Vielfalt. Sich auf den eigenen Gartenzaun zu konzentrieren vereinfacht erst mal vieles – über den Tellerrand zu schauen und sich mit der Komplexität unserer Welt sehr zu beschäftigen, ist aufwendig und kann auch mal wehtun. Es gibt keine einfachen Antworten auf Probleme, die alle Menschen betreffen. „Die unsrigen zuerst“ bedeutet ja eigentlich „die anderen sind nicht so wichtig!“ Bei Nationalismus geht es nicht um Solidarität, sondern um Ausgrenzung. Nationalismus ist Abschottung, sowohl im Kopf als auch in der Realität.
B.K.: Im Kapitalismus dominiert eine systematische gesellschaftliche Erziehung zur menschlichen Kälte, weil das Profitmotiv und die Konkurrenz das Handeln, Denken und Fühlen bestimmt. Dadurch wird eine Disposition erzeugt, die gerade in Zeiten der Verunsicherung durch politische, ökonomische und ökologischen Krisen Xenophobie und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit fördert. Aktiviert werden diese Menschenfeindlichkeit und der Nationalismus durch reaktionäre politische Akteur*innen, die damit bestimmte Machtinteressen durchsetzen. Das ist natürlich das Gegenteil von Solidarität wie wir sie verstehen. Eine linke Perspektive geht von der Idee universaler Emanzipation aus, in der es keine „geknechteten Wesen“ mehr geben sollte wie Marx meinte. Linke Politik befördert daher die Solidarisierung der Menschen im Respekt vor ihrer Unterschiedlichkeit gegen die kapitalistische Kälte.
Bildpunkt: Solidarität ist sicherlich unverzichtbar positiver Bestandteil jedes linken Politikverständnisses. Dennoch kann sie auch unangenehme Nebenfolgen haben. Sie kann etwa Paternalismus mit sich bringen oder letztlich bloß eine Art Tarnung für die eigene, privilegierte Bereicherung sein, indem man sich selbst mit der guten Tat aufwertet oder sich gleich die Zeichen der Diskriminierten ungefragt zu eigen macht („kulturelle Aneignung“). Wie versucht ihr, diese Nebenfolgen auszuschließen?
B.K.: Das kann man schlecht ausschließen. Auch die linken Gegenbewegungen entstehen in der kapitalistischen Welt. Alle bestehenden gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse finden sich daher auch in den Gegenbewegungen. Überwunden werden können sie nur in einem langen Prozess der Selbstermächtigung und Emanzipation der Subalternen auch in den linken Gegenbewegungen. Insofern ist wohl die Stärkung der Fähigkeit zur kritischen Reflexion auch des eigenen Handels der beste Schutz vor Problem wie du sie ansprichst.
J.K. & J.W.: Das können wir nicht ausschließen, das denken wir auch. Wir können aber versuchen, uns immer wieder zu reflektieren, unsere Haltung infrage zu stellen und aus Fehlern zu lernen. Aus Angst etwas Falsches zu machen, lieber gar nichts zu tun ist ja auch keine Option. Das ist ja das Schöne an praktischer Solidarität, man kann sich austauschen und voneinander lernen. Solidarität bedeutet ja nicht nur, eine Idee zu teilen. Solidarität bedeutet: Support anbieten, in Austausch treten und bleiben, ggf. auch mal die Klappe zu halten, wenn andere Positionen wichtiger sind. Vor allem aber bedeutet Solidarität, nicht wegzuschauen und den Mund dann aufzumachen, wenn es eben nicht leicht und bequem ist.
Bildpunkt: Solidarität ist in den letzten Jahrzehnten nicht nur als Grundlage des Sozialen systematisch entwertet und durch Modelle wie Eigenverantwortung, unternehmerisches Selbst, usw. ersetzt worden. Sie wird auch ganz konkret kriminalisiert, wie nicht zuletzt am Beispiel der Seenotrettung von Flüchtlingen deutlich wird. Wie können wir solidarisches Handeln dennoch fördern und ausbauen?
J.K. & J.W.: Wenn Solidarität als solche kritisiert wird, ist es umso wichtiger mit praktischen Ansätzen zu antworten und den Begriff nicht zu einer Worthülse verkommen zu lassen. Das bedeutet auch, positive Erlebnisse zu schaffen, Gemeinschaft zu fördern und zu fordern – vor allem außerhalb der Metropolen. Solidarität als solche hat ja erst mal keinen ökonomischen, kapitalen Mehrwert in unserem System. Es kostet Kraft, sie in einer Kultur der individuellen Selbstverwirklichung, die viel mit Wettbewerb und Schnelligkeit zu tun hat, Pausen einzulegen, um solidarisches Verhalten in den Mittelpunkt zu rücken. Gleichzeitig haben wir mittlerweile einen unglaublichen Andrang an Aktivist*innen, die helfen wollen, Menschen, die auf die Straße gehen und systemische Gleichberechtigung einfordern. 2016 engagierten sich über 30.000 Menschen ehrenamtlich, Zahlen steigend. #defendSolidarity gilt für alle.
B.K.: Neben vielen anderen Beispielen hat die Mobilisierung von 240.000 Menschen in Berlin im Oktober 2018 und von 40.000 Menschen in Dresden im August 2019 durch das Bündnis Unteilbar gezeigt, dass es eine erhebliche Kraft der Solidarität in dieser Gesellschaft gibt. Sie kann stärker und sichtbarer werden, wenn sich unterschiedliche Akteure wie die Seenotrettung, die Klimagerechtigkeitsbewegung und die Gewerkschaften aufeinander beziehen und lernen eine gemeinsame Sprache zu sprechen. Zusammen mit linken politischen Parteien könnte es so gelingen, einen Pol der Solidarität gegen den Menschenhass von rechts zu setzen.
Jelka Kretzschmar und Jonathan Weinspach arbeiten im Medienteam von Sea-Watch e.V. und leben in Berlin.
Boris Kanzleiter ist Leiter des Zentrums für Internationalen Dialog und Zusammenarbeit der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin.
Das Gespräch wurde im August/ September 2019 per Email von Jens Kastner geführt.