Wort und Text, Schrift und Sprache sind selbstverständliche Bestandteile moderner und zeitgenössischer Kunst. Sie gehen diverse Wechselverhältnisse mit Bildern ein und sind, wie Katrin Ströbel in ihrer vergleichenden und systematischen Analyse nachzeichnet, „konstituierende Komponenten“ von Kunst. Mehr noch, die Integration von Schrift wird der Autorin zufolge überhaupt zur Vorläuferin einer Öffnung der bildenden Kunst zu anderen kulturellen Praktiken. Auch das gesprochene Wort hat sich in der bildenden Kunst unüberhörbar ausgebreitet: Interviews sind zu einer zentralen Quelle künstle-rischer Arbeiten geworden, auch Kommentare zur und über Kunst haben sich als Bestandteil des Kunstprozesses etabliert. Linda Sandino hat in dem einleitenden Text des von ihr mitherausgegebenen Bandes die Geschichte der Oral History in der Kunst nachgezeichnet. Dabei zeigt sich auch, dass die Inklusion der Oral History prinzipiell gegen die nach wie vor dominante ästhetische Disposition reiner Anschauung gerichtet ist, indem sie „firsthand narratives and experiences“ von Marginalisierten als hörenswert und kunstrelevant einklagt. Aber es geht um viel mehr als nur Kunst. In einer kritischen Auseinandersetzung mit Tonaufnahmen, die im südlichen Afrika zur Zeit und im Rahmen der Kolonialprojekte aufgezeichnet wurden, zeigt Anette Hoffmann auf, wie von Sprecher*innen auch „offen Kritik“ am fragenden Ethnologen und seiner kolonialen Haltung geübt wird. Die faszinierende Studie über die aufgezeichnete Sprache und die (Un-)Möglichkeiten des Hörens weist diese Geschichte der Oral History als Teil „gewaltsamer Wissensproduktion“ aus. Jede sprachliche Interaktion, schrieb auch schon Pierre Bourdieu in seinem zum Klassiker gewordenen Buch Was heißt sprechen?, ist von Machtverhältnissen durchzogen. Die Chancen, mit dem eigenen Sprechen auch Gehör zu finden, sind gesellschaftlich sehr ungleich verteilt. Fragen nach dem politischen Ursprung der Oral History widmet sich der Band von Linde Apel, der der Relevanz ihres Anspruchs nachgeht, „Interviewte zur Beschäftigung mit der eigenen Geschichte zu befähigen und damit Geschichte zu demokratisieren“. Auch wenn dabei Menschen Gehör geschenkt wird, die bislang auf kein offenes Ohr trafen, können die Erzählformen auch „Gussformen“ (Alexander von Plato) sein, die vor allem die kulturelle Prägung des Erzählens anzeigen. Wie mit dieser Geprägtheit umgegangen wird, ist nur eines der Themen der vielfältigen Aufsatzsammlung, die die von Dorothee Wierling betonte Bedeutung der Oral History für die Geschichtswissenschaft und Transformationsforschung deutlich macht. Dass die Auseinandersetzung nicht nur mit dem Was, sondern auch mit dem Wie und dem Warum des Gesagten über konkrete Einsichten hinaus auch „theoretical innovation“ für die Sozialwissenschaften hervorbringt, betont Lynn Abrams in ihrer prägnanten Einführung. Entlang von Schlüsselbegriffen der Forschung wie Selbst, Subjektivität, Gedächtnis, Narrativ, Performance, Macht und Trauma entfaltet sich die Bandbreite der praktisch-theoretischen Austauschbeziehungen zwischen den verschiedenen Disziplinen.
Jens Kastner ist Soziologe und Kunsthistoriker und unterrichtet an der Akademie der bildenden Künste Wien. www.jenspetzkastner.de
→ Lynn Abrams: Oral History Theory. Abingdon/ New York 2016 (Routledge), 2. Aufl.
→ Linde Apel (Hg.): Erinnern, erzählen, Geschichte schreiben. Oral History im 21. Jahrhundert. Berlin 2022 (Metropol Verlag).
→ Pierre Bourdieu: Was heißt sprechen? Zur Ökonomie des sprachlichen Tausches. 2010 (Braumüller/ new academic press), 3. Aufl.
→ Anette Hoffmann: Kolonialgeschichte hören. Das Echo gewaltsamer Wissensproduktion in historischen Tondokumenten aus dem südlichen Afrika. Wien 2020 (Mandelbaum Verlag).
→ Linda Sandino und Matthew Partington (Hg.): Oral History in the Visual Arts. London/ New Dehli/ New York/ Sydney 2013 (Bloomsbury).
→ Katrin Ströbel: Wortreiche Bilder. Zum Ver-hältnis von Text und Bild in der zeitgenössischen Kunst. Bielefeld 2013 (Transcript Verlag).