Bildpunkt: Globale soziale Rechte sind eine Zielperspektive im Kampf um „das Recht, Rechte zu haben“ – ein Gedanke, den schon Hannah Arendt entwickelt hatte und der im Kontext des zapatistischen Aufstands in Mexiko (1994ff.) wieder einige Bekanntheit erlangt hat. Was bedeutet diese Perspektive für euch?
Karin Lukas: Hannah Arendt hat in diesem Zusammenhang auch gesagt: „Wenn man aus einem staatlichen Gefüge herausfällt, fällt man aus der Menschheit heraus.“ Rechte zu haben ist Teil des Menschseins. Aber gerade den (sozial) Ausgegrenzten, die aus dem staatlichen Gefüge herausfallen oder aus dem Gefüge gedrängt werden, sind diese Rechte verwehrt. Sie wissen manchmal nicht einmal, dass sie sie überhaupt haben. Also ist das Recht, Rechte zu haben, und von ihnen auch zu wissen, die Grundvoraussetzung für alles Weitere. Es ist ein riesiger Unterschied, ob man etwas fordert, auf das man ein Recht hat, oder auf den Goodwill des Staates angewiesen ist. Dieser Empowerment-Aspekt ist unglaublich wichtig, um soziale Rechte weltweit voranzubringen.
Jelena Micić: WienWoche hat in den vergangenen Jahren versucht, einzelne Kämpfe miteinander in Beziehung zu setzen und zu unterstützen. Beispielsweise die globale Fürsorgebewegung (Stichworte: Care-Arbeit, Arbeitsmigration), den historischen Zusammenschluss der Blockfreien, die Nicht-Staatsbürger*innenschaft oder anti-extraktivistische1 Bewegungen. Wir erleben, dass Menschenrechte für Bürger*innen gelten und auf der Staatsangehörigkeit einer Person basieren. Dies führt zu einer Spaltung der Un(ter)repräsentierten und vertieft die Kluft zu denjenigen, die von ihrem Staat geschützt werden. Ganz zu schweigen von der unüberbrückbaren Feindseligkeit zwischen einheimischen und ausländischen Arbeitnehmer*innen. Die österreichische Linke ist stark national orientiert. Das ist ein großes Problem, wenn es um die Beteiligung an internationalen Kämpfen geht. Globale soziale Rechte dürfen nicht verhandelbar sein.
Bildpunkt: Karin, Du warst beim Ludwig Boltzmann Institut für Grund- und Menschenrechte zuständig. Du forderst, soziale Rechte in Österreich in die Verfassung aufzunehmen. Warum?
Karin Lukas: Österreich wird zwar als Sozialstaat gesehen, verfassungsrechtlich wird er aber nicht entsprechend abgesichert. Eine einfache Mehrheit im Nationalrat – in manchen Angelegenheiten auch in einem Landtag – kann tiefgehende Einschnitte in das Sozialsystem beschließen, ohne dabei auf verfassungsrechtliche Grenzen zu stoßen. Beispielsweise hat Österreich mit 55 % als Grundbetrag beim Arbeitslosengeld eines der niedrigsten in der EU. Das führt dazu, dass 9 von 10 Arbeitslosen an oder unter der Armutsgrenze leben. Gäbe es soziale Grundrechte in Österreich, wäre das meiner Meinung nach verfassungswidrig. Weil soziale Rechte nicht verfassungsrechtlich geschützt sind, unterliegen sie auch nicht der Kontrolle des Verfassungsgerichtshofs. Aber auch ein Eingriff in soziale Rechte sollte seiner Kontrolle unterliegen. Ein konkretes Beispiel ist die durch die Inflation verursachte unverhältnismäßige Minderung von Sozialleistungen. Das könnte dann vor den Gerichtshof gebracht werden, wenn soziale Rechte in der Verfassung verankert wären. Soziale Rechte in der Verfassung wären also besser geschützt. Beispielsweise beim Recht auf Wohnen wären Eingriffe in Wohnraum durch Spekulation oder Leerstände unzulässig. Sozialer Wohnbau hätte rechtlich verbindlich Priorität in der Wohnungspolitik. Zweitens ist es für Betroffene ein wichtiges Signal, wenn soziale Rechte in die Verfassung gehoben werden. Der Unterschied zwischen dem Gefühl, eine Bittstellerin zu sein oder eine Trägerin von fundamentalen Rechten, ist riesig: Hat man aufgrund seiner finanziellen Lage einen Anspruch auf eine Sozialwohnung? Oder liegt es im Ermessen der Behörden, sie zu verweigern? Das heißt, der Empowerment-Aspekt von Grundrechten für die Betroffenen ist sehr groß.
Bildpunkt: Jelena, Du bist Teil der künstlerischen Leitung der WienWoche. 2024 hattet Ihr Euch u.a. dem „Kampf um die volle Beteiligung aller Mitglieder der Gesellschaft“ gewidmet. Inwiefern ist dieser Kampf im Rahmen eines Kunstfestivals bedeutsam?
Jelena Micić: In Zeiten der normalisierten rechtsextremen und nationalistischen Positionierungen hat WienWoche eine klar aktivistische Rolle. Das Festival bietet Nicht-Bürger*innen und anderen minorisierten Gruppen die Möglichkeit, politische Meinungen zu äußern. Es ist eine Plattform, auf der Nicht-Staatsbürger*innen aus eigener Erfahrung für sich selbst sprechen. Als ein Ort des Austauschs zwischen verschiedenen Kämpfen zielt die WienWoche auf die Neuausrichtung von Narrativen der regierenden nationalen Mehrheit.
Wir leiten öffentliche Gelder in künstlerische Programme um, die als Erinnerung und fortlaufender Kampf bestehen bleiben. Wir bewahren die Communitys und ihre Geschichte und stärken sie durch künstlerische Programme. Koloniale Erfahrungen, Unterdrückung und ein verankerter und normalisierter Alltagsrassismus werden zu Feldern des Widerstands transformiert.
Bildpunkt: Das Konzept der globalen sozialen Rechte dient einerseits dazu, Partizipation von Marginalisierten juristisch festzuschreiben, andererseits soll es aber auch über den rechtlichen Rahmen hinausweisen und als gemeinsame Klammer für die Mobilisierung verschiedener sozialer Bewegungen fungieren. Wie praxistauglich ist diese doppelte Funktionsweise?
Karin Lukas: Dass Rechte grenzüberschreitend sind, ist eine machtvolle Erzählung. Damit sie auch Realität werden kann, braucht es globale soziale Bewegungen, Menschen, die sich zusammenschließen und für ihre Rechte oder die anderer kämpfen. Die Landlosenbewegung beispielsweise hat in den 1990ern in Brasilien begonnen und sich mittlerweile in über 80 Ländern verbreitet. Sie fordert das Recht auf Land, Landreformen und Ernährungssicherheit, alles soziale Rechte, und hat schon einige Erfolge errungen.
Jelena Micić: Das Problem ist, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen entweder teilweise nicht vorhanden sind oder tendenziös gehandhabt werden. Die Gewährung von Rechten für die Marginalisierten nimmt den Menschen, die sie bereits haben, nicht die Rechte weg. Es geht nicht darum, andere zu gefährden. Identitätskämpfe schließen sich manchmal gegenseitig aus, obwohl sie auf dem basieren sollten, „was uns gemeinsam fehlt“. Kämpfe sind kein Wettbewerb, denn wir müssen alle Errungenschaften loben, auch wenn wir nicht zu einer bestimmten Gruppe gehören. Solange wir nicht alle die gleichen Rechte haben, sind die Identitätskämpfe wichtig, um die Lücken im Rechtsrahmen zu adressieren. Wenn wir davon ausgehen, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen den „Willen des Volkes“ widerspiegeln sollten, frage ich mich immer, wer diesen Willen vertritt, wenn zum Beispiel 35% der in Wien lebenden Menschen nicht in der Lage sind, diesen Willen bei den kommenden Wahlen zum Ausdruck zu bringen.
Bildpunkt: Gegenwärtig ist die Forderung nach globalen sozialen Rechten im öffentlichen Diskurs kaum präsent. Zu Zeiten des Arabischen Frühlings und der Occupy Wall Street-Bewegung um 2011 gab es eine Reihe von Veröffentlichungen und Veranstaltungen zum Thema, seitdem scheint die Debatte in einem konjunkturellen Tief angelangt. Angesichts des weltweiten Vormarsches der Ultrarechten und den damit verbundenen Entrechtungsprozessen ist das verwunderlich. Warum gelingt es derzeit nicht, globale soziale Rechte viel stärker in den Fokus der politischen Auseinandersetzung zu rücken?
Karin Lukas: Wir befinden uns in einer Zeit der multiplen Krisen und großer Unsicherheit. Die Sehnsucht nach Sicherheit, einfachen Botschaften und dem Gestrigen, das angeblich um so viel besser war, ist bei vielen da. Der Soziologe Andreas Reckwitz spricht in seinem gerade erschienenen Buch vom Gefühl des Verlusts als Grundproblem der Moderne. Die Forderung nach sozialen Rechten ist nicht verschwunden, sondern tritt anders auf, z.B. durch die Klimakrise. Die Klimakrise ist ja auch eine soziale Krise. Die, die am wenigsten zum Klimawandel beitragen – Menschen der kleinen Pazifikinseln, in Subsahara Afrika – bekommen ihn am stärksten zu spüren. Dagegen gibt es zahlreiche Proteste und Widerstand, auch vor Gerichten im Norden und Süden. Wir sehen in den letzten Jahren einen riesigen Anstieg an Gerichtsfällen, in denen Staaten und Unternehmen von der Zivilgesellschaft geklagt werden, weil sie verbindliche Klimaziele nicht erfüllen und mit ihrem Beitrag zur Klimakrise soziale Rechte wie das Recht auf Gesundheit verletzen. Ich denke, die Auseinandersetzung hat sich auch zu den Gerichten hin verlagert, weil auf politischer Ebene, gerade was Menschenrechte betrifft, Stillstand beziehungsweise Rückschritt herrscht. Die Zivilgesellschaft baut also seit Jahren über Gerichte Druck auf, um Regierungen weltweit zu mehr Klimaschutz zu drängen. Und das ist bis jetzt recht erfolgreich, knapp über 50% der Gerichte haben pro Klima und pro Zivilgesellschaft entschieden. Das gibt mir Hoffnung, dass Menschenrechte nicht nur zurückgedrängt werden, sondern gleichzeitig als Hebel verwendet werden, um wichtige gesellschaftliche Anliegen abzusichern.
Jelena Micić: Zu dieser Frage möchte ich drei Aspekte vorbringen. Der erste Punkt hat damit zu tun, wie das Wort „liberal“ verstanden und verwendet wird. Es ist wichtig, daran zu denken, dass liberal nicht dasselbe ist wie progressiv. Wirtschaftsliberalismus ist nur für manche fortschrittlich. Freiheiten im Sinne von Menschenrechten werden in der Regel als Teil des Liberalismus verstanden, während der Liberalismus in Wirklichkeit die Freiheiten einschränkt. Zweitens ist es einfacher, in Österreich lebende Nicht-Bürger*innen ins Visier zu nehmen, als sinnvolle Sozialprogramme oder Zugang zu den Bürger*innenrechten anzubieten. Die Verteidigung der nationalen Grenzen betrifft auch den eingeschränkten Zugang zum EU-Arbeitsmarkt für die so genannten Drittstaatsangehörigen. Gleichzeitig wird der freie Fluss von kritischen Rohstoffen zugunsten der EU-Bürger*innen gesichert. Damit komme ich zum letzten Punkt: Die Systeme wenden sich vom ausdrücklichen Willen des Volkes ab. Die anhaltenden Proteste der Studierenden in Serbien machen einen korrupten Staatsapparat für den Tod von 15 Menschen verantwortlich, werden aber in der europäischen Öffentlichkeit weitgehend ignoriert. Kein Wunder, dass es kein Vertrauen in Institutionen gibt. Befreiung ist nicht profitabel.
Karin Lukas ist Rechts-professorin an der Central European University und lebt in Wien.
Jelena Micić ist -Künstlerin und Teil des Leitungsteams der WienWoche
Das „Gespräch“ wurde Anfang März 2025 von Sophie Schasiepen und Jens Kastner per E-Mail geführt.