Geht nicht gibt’s nicht

Von „Online und a bissi Balkon“ zu FKK – Freie Korona Kultur

Prekariat, fehlendes soziales Netz, unwirtliche Bürokratie und unzureichende Unterstützung – die Corona-Pandemie legt schon seit Jahren brachliegende Stellen der Kulturpolitik schmerzlich frei. Doch die Ausnahmesituation ist auch ein Katalysator für die Kreativität. Künstler_innen und Kulturinitiativen finden notgedrungen neue Wege, Projekte zu realisieren und Publika zu erreichen – unter unterschiedlichen Mottos.

Für jene, die schon immer viel im Internet unterwegs waren, ist es quasi „business as usual“. Etwa für Musikerin und Illustratorin Anna Kohlweis: „Ich bin ja im Internet aufgewachsen. Ich schließe und pflege Freundschaften seit über 20 Jahren online, und online ist für mich nicht weniger real oder öffentlich.“ Sie beobachtet, dass in ihrem Umfeld Ideen für den Umgang mit der neuen Situation „extrem schnell gesprossen sind.“ „Live Streams, Lösungen für den online Ticketverkauf, Crowdfunding-Kampagnen. Es gibt so viele Möglichkeiten, sich gegenseitig zu unterstützen.“ Sie beschreibt, dass in ihrem Umfeld internationale Livestream-Festivals entstehen, wo mehrere Bands sich online eine „Bühne“ teilen. Diese Acts könnten sonst aufgrund der räumlichen Distanz und verschiedener Lebensrealitäten vermutlich nie alle gemeinsam performen.

Corona macht erfinderisch

Jene, die schon vor der Pandemie virtuelle Programme hatten und sich mit Technologie im Kulturbereich auseinandergesetzt hatten, sind nun dezidiert im Vorteil. Schon vor Corona wurde das Internet in der Kunst genutzt, um unüberwindbare Distanzen – nun ja, zu überwinden. „Der Einsatz digitaler Medien war in unserer Arbeit auch vorher schon wichtig, nicht zuletzt, um fehlender Kunstfreiheit und fehlenden Ausreisemöglichkeiten über Live-Streamings zu begegnen. Wir hatten schon Live-Performances mit Teheran, Bagdad, Istanbul“, sagen Fariba Mosleh und Anne Wiederhold-Daryanavard von der Brunnenpassage in Wien.

Dort lief bis vor Kurzem virtuell das Projekt Jump!Star, das in Wien Simmering seinen Ausgangspunkt hatte und nun weltweite Dimension angenommen hat. Während des Projekts wurde zwei Wochen lang täglich ein offen zugänglicher Videokonferenzraum eingerichtet – zum „gemeinsamen Tanzen, Singen, laut Zuhören und wild Träumen“. Ziel war es, Verbindung zu schaffen, gesellschaftliche Resonanzräume zu öffnen und neue Traditionen für das zukünftige Zusammenleben zu gestalten.

Und im analogen Raum geht es in der Brunnenpassage weiter mit The Artists Are Present, einem Residency-Programm für Einzelkünstler_ innen, die während der behördlichen Schließung den Brunnenpassagen-Raum nutzen. Räume, die momentan freistehen, für Kunst zu beanspruchen, ist ein breiterer Trend: Das Hotel Zeitgeist Vienna veranstaltet Ende Mai ein Konzert mit „Klassik-Hits“ mit der Gruppe Camerata Carnuntum sowie Opernsängerinnen Monika Medek und Dagmar Dekanovsky – im Innenhof des Hotels, allerdings. Die Zimmer mit Hoffenster stehen als private Logen zur Verfügung. „Das Fensterkonzert war in zwei Tagen komplett ausgebucht!“, schreibt Medek auf Social Media. „Corona macht erfinderisch!“, zwinkert ihr ein Fan zu.

„ ,Geht nicht gibt’s‘ nicht“

… , dachten sich wohl generell viele Künstler_innen und Kultur-arbeiter_innen, nachdem sich herauskristallisierte, dass im Sommer 2020 keineswegs von einer oft bemühten Rückkehr zur Normalität gesprochen werden kann. Film-, Text- und Theaterarbeiterin Tina Leisch veröffentlichte am 19. April einen vielbeachteten Post auf Social Media mit der klingenden Einleitung: „Go online und a bissi Balkon.“ Sie markierte darin viele engagierte Künstler_innen und Kulturarbeiter_innen, woraufhin sich ein neues Netzwerk formierte. Dieses Netzwerk, in dem auch viele andere bekannte Größen der Wiener Kulturszene sind, bereitet nun einerseits ein Festival im Sommer vor und koordiniert andererseits Forderungen an die Lokalpolitik. „Unsere Beobachtung war, dass die Kulturpolitik Rahmenbedingungen stellt und Entscheidungen über das kulturelle Geschehen während der Pandemie fällt, ohne vorher mit den Künstler_innen selbst gesprochen zu haben. Unsere Expertise wurde nicht zu Rate gezogen. Dabei ist kreative Lösungen zu finden unser Job. Unmögliches möglich machen: Das ist wortwörtlich unser Job“, sagt Leisch.

Die Forderungen, die die Wiener Kulturszene nun an die Lokalpolitik stellt: Erstens das Erstellen einer App für Events und Kultur, in der alle Informationen sowie Zählkarten zentral abrufbar sein sollen. Jede Initiative solle sich selbst eintragen können, von großen Institutionen über kleine Festivals bis hin zu Solo- Künstler_innen. Außerdem solle es in der App ständig aktualisierte Mitteilungen über die aktuellen Corona-Bestimmungen geben. „Die App könnte ,Wir spielen‘ genannt werden. Wir spielen Tango, wir spielen Theater, wir spielen Revolution – so können dann die einzelnen Einträge heißen“, erklärt Leisch. Zweitens wird eine gemeinsame PR für alle Sommerevents gefordert, um effiziente und zeitgerechte Kommunikation zu ermöglichen, und drittens sollen die Spielorte gemeinsam koordiniert werden.

Rund um Tina Leisch, Elisabeth Scharang, Martina Theininger, Constance Cauers und viele mehr entsteht auch gerade ein Plan für ein mehrwöchiges Open-Air-Festival in Wien unter dem Namen Freie Korona Kultur – kurz FKK. Das FKK soll ein spartenübergreifendes Open Air Festival der Freien Szene und der Filmkunst werden, das sowohl in der Form der Durchführung als auch vom Inhalt her auf die aktuellen Gegebenheiten reagiert. Coronasicher, versteht sich. Geplant ist es ab Mitte Juli.

Challenge accepted!

Für September ist dann Sodom Vienna geplant; es reiht sich ein mit anderen Kulturveranstaltungen rund um das Jubiläum 100 Jahre Rotes Wien und fällt auch nicht zufällig mitten in den Wien-Wahlkampf. Namensstiftend für das Projekt ist die Produktion des Filmes Sodom und Gomorrha 1920 bis 1922, die größte und teuerste Filmproduktion der österreichischen Filmgeschichte. Die Idee von Sodom Vienna war, nun, im 21. Jahrhundert, wieder ein Massenspektakel in der Stadt zu veranstalten, diesmal politischer Natur. Doch nun muss man sich auf eine neue Situation einstellen. „Es ist definitiv eine Herausforderung“, sagt Gin Müller für den (unwahrscheinlich passend benannten, aber schon lange vor Corona bestehenden) Verein zur Förderung der Bewegungsfreiheit, Veranstalter von Sodom Vienna. „Man muss sich flexibel umstellen, wesentlich mehr mitbedenken. Aber wir schaffen das durch Aufsplitten des Massenereignisses auf mehrere Events und mehr Inhalte auf Social Media.“ Das Ziel von Sodom Vienna: politisch mitmischen, intervenieren und Impulse geben, genau wenn es heiß wird. Dabei sind Queering Rotes Wien und ein Fokus auf die Diversität der Migrationsgesellschaft wichtige Aspekte.

„Challenge accepted!“, fasst also auch die Herangehensweise vieler Kunst- und Kulturinitiativen angesichts der Corona-Krise zusammen. „Diese außergewöhnliche Zeit ist auf jeden Fall auch eine Chance für den ganzen Kultursektor, dass vieles – auch neben Prekarität und notwendiger Umverteilung – überdacht wird. Oder eben auch das Bewusstmachen von Partizipation und Ko- Kreation statt reinem Zuschauen“, so Mosleh und Wiederhold-Daryanavard von der Brunnenpassage.

Auch Anna Kohlweis ist guter Dinge: „Meine internationale Community ist sehr stark zusammengerückt, und ich hab das Gefühl, als ob mein Freundeskreis in Wien und der in der USA gleich weit weg wären. Das ist wahnsinnig schön. Wir schieben alle Panik, aber es wird so viel aufgemuntert, unterstützt, und über Distanz kollaboriert wie noch nie zuvor. Ich schreibe gerade mit einem Freund in Los Angeles ein Album. Wär das sonst jemals so passiert? Ich glaube nicht.“ Und Gin Müller schließt ab: „Sodom Vienna – das klingt so postapokalyptisch, und das Postapokalyptische ist gleichzeitig so aktuell. Auch die 1920er waren von vielen Krisen geschüttelt, und damals war die Reaktion Dekadenz: Lasst uns trotzdem feiern! Ich denke, das Lustvolle soll auch in der Corona-Krise nicht zu kurz kommen.“


Olja Alvir ist Autorin in Wien. Im Herbst 2020 erscheint ein kritischer Text von ihr über den Begriff „sozialer Aufstieg“ im gerade erfolgreich über online Crowdfunding finanzierten Sammelband Solidarisch gegen Klassismus, Unrast Verlag (Münster).