[…] Der dekoloniale Feminismus und das Buen Vivir streben beide die Konstruktion von Wissen und Praktiken außerhalb des westlichen Kanons an. Es hat jedoch keine konsequente konzeptionelle Annäherung zwischen ihnen gegeben, die eine Hybridisierung zwischen Buen Vivir und dem lateinamerikanischen dekolonialen Feminismus ergeben könnte. Genau dies aber strebe ich in diesem Artikel an. Ich argumentiere, dass diese Hybridisierung das Ergebnis einer gemeinsamen interkulturellen Epistemologie und dekolonialer imaginärer Räume in Abya Yala (Lateinamerika) sein sollte. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es, so wie es notwendig ist, die Pluralität innerhalb des Buen Vivir anzuerkennen, gleichzeitig gilt, sie in Bezug auf verschiedene geschlechtsspezifische Ansätze neu zu überdenken. Und je mehr wir uns ihrer Radikalität nähern, desto näher kommen wir dem Kern des Buen Vivir. Dekolonialer Feminismus und Buen Vivir stehen konzeptionell vor der Herausforderung, eine dekoloniale Epistemologie aus den imaginären Räumen der Postkolonialität und der Dekolonialität zu schaffen. Buen Vivir und der dekoloniale Feminismus teilen wichtige Anliegen wie die Dekolonisierung des Wissens und die Betonung von Affekt und Gefühl als eigene Arten und Weisen, den Materialismus als die dominante Form der modernen Ontologie zu überwinden. Affekt und Gefühl sind in der Tat Teil der Epistemologien des Südens und stellen einen Versuch dar, Wissensformen jenseits des Denkens und der Dogmen zu schaffen, die für die westlichen Philosophien wesentlich sind. Der vielleicht wichtigste Beitrag von Buen Vivir zum dekolonialen Feminismus ist die Betonung der inter- und intragesellschaftlichen Machtverhältnisse, dadurch, dass interkulturelle Vorschläge gemacht werden. […]
Das hybride Buen Vivir
[…] Es gibt mindestens zwei gegensätzliche Positionen zur Frage der postkolonialen Hybridität. Die erste feiert das Ende einer Kolonialität, in der die Trennlinien zwischen Kolonisator*in und Kolonisierten verschwimmen und unterlaufen werden. Die zweite warnt davor, dass Essentialismen für die Aufrechterhaltung einer klaren Opposition zu neokolonialen Prozessen grundlegend sind. In den Diskussionen über die mögliche Hybridisierung des Buen Vivir argumentieren einige, dass es sich um eine Metamorphose zwischen der andinen Kosmologie und einer akademischen und politischen Neuformulierung handelt. Inzwischen gibt es andere Denker*innen, die sich gegen das Hybride aussprechen, weil es offensichtlich einen Bruch mit der Moderne, ausgehend von traditionellem und indigenem Wissen darstellt. […] Eine Besonderheit der Hybridisierungsprozesse rund um das Buen Vivir besteht zweifellos darin, dass seine Pluralität zum Teil auf kollektiven und historischen Grundlagen beruht, was eine inhärente und ständige Hybridisierung impliziert, da wir uns nicht auf das Buen Vivir, sondern auf Gute Leben [Buenos Vivires, im Plural] in ständiger Konstruktion beziehen, was die Pluralität der sozio-historischen Kontexte unterstreicht und weit entfernt ist von der großen Erzählung einer universellen Transformation.
Die vorgeschlagene Hybridisierung zwischen dem dekolonialen Feminismus und dem Buen Vivir erfolgt nicht zwischen der Moderne und der Nicht-Moderne, dem Kolonialen und dem Nicht-Kolonialen, sondern zwischen gemeinsamen und gleichzeitigen Prozessen der Dekolonisierung, d.h. es handelt sich um ein gemeinsames Vorgehen gegen die epistemische Gewalt, die Gayatri Spivak im Hinblick auf die Unmöglichkeit der Repräsentation der Subalternen hervorgehoben hat. […]
Buen Vivir und dekolonialer Feminismus: ein hybrider Vorschlag für eine politische Utopie
Der dekoloniale Feminismus stellt, in den Worten der dominikanischen Philosophin Yuderkys Espinosa, „den Versuch dar, mehrere kritische und alternative Traditionen zur westlichen Moderne, vor allem ausgehend vom radikalen feministischen Denken in unserem Amerika, zu artikulieren. In diesem Sinne erhebt er einerseits den Anspruch, die Erbin des Schwarzen, People-of-Color- und Dritte-Welt-Feminismus in den Vereinigten Staaten zu sein, mit ihren Beiträgen über die Art und Weise, wie die Unterdrückung von Klasse, Rassialisierung, Geschlecht und Sexualität artikuliert wird, und der Notwendigkeit, ihre eigene Erkenntnistheorie zu reproduzieren, die auf der Anerkennung dieser Untrennbarkeit der Unterdrückungen beruht. Andererseits wird das Erbe afro-indigener und indigener Frauen und Feministinnen aufgegriffen, die von Abya Yala aus das Problem ihrer Unsichtbarkeit in sozialen Bewegungen und im Feminismus selbst angesprochen haben“ (Espinosa 2014, S. 32). Folglich versucht der lateinamerikanische dekoloniale Feminismus, Kolonialität und Rassismus nicht nur als soziales Phänomen, sondern auch als Epistemologien der Moderne zu analysieren.
Ausgehend von dieser Definition des dekolonialen Feminismus ist der wichtigste Berührungspunkt zwischen Buen Vivir und dekolonialem Feminismus die epistemische Interkulturalität.
Epistemische Interkulturalität ist ein Beispiel für die dekoloniale Konstruktion von Wissen. Wie Catherine Walsh hervorgehoben hat, handelt es sich um die „Konstruktion neuer erkenntnistheoretischer Rahmen, die westliches und nichtwestliches, indigenes, aber auch Schwarzes Wissen (und ihre theoretischen und erfahrungsbasierten Grundlagen, sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart) einbeziehen und verhandeln, wobei die Notwendigkeit, sich mit der kolonialen Macht zu konfrontieren, der dieses Wissen unterworfen ist, stets als grundlegend angesehen wird“ (Walsh 2004, S.3).
Der Schwerpunkt des dekolonialen Feminismus liegt auf der Intersektionalität und der Anerkennung der erkenntnistheoretischen Vorschläge von Frauen, die im lateinamerikanischen Feminismus als „die Anderen“ bezeichnet wurden. Ausgehend von deren Denk- und Lebensweisen, sind wir bereits von der Sichtbarmachung „der/des Anderen“ in Lateinamerika zur Schaffung von Epistemologien übergegangen. […]
Buen Vivir wird einer der Wege sein, auf denen dieses Ziel zu erreichen ist. Aus der Perspektive des feminismo comunitario hat Lorena Cabnal (2014) darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, die philosophischen und kosmogonischen Grundlagen, die die Epistemologie des Buen Vivir stützen, aus der Perspektive
indigener Frauen zu überdenken […].
Unsere sozialen und erkenntnistheoretischen Analysen können die Bedeutung der Buenos Vivires [im Plural] und des dekolonialen Feminismus in Lateinamerika nicht außer Acht lassen. Das heißt, dass der Punkt der epistemischen Interkulturalität von einem Ort ausgeht, der Abya Yala ist. Abya Yala wird in dekolonialen feministischen Schriften gemeinhin aus der Sprache der Kuna (einer Bevölkerungsgruppe, die das Gebiet bewohnt, das heute Panama und Kolumbien entspricht) als der Name des Kontinents definiert, der nach der Kolonialisierung „Amerika“ genannt wurde. […]
Der Raum als Dimension der Vielfalt
Abya Yala wurde als „utopisches Territorium“ beschrieben und sogar seit Kurzem als Gegengeografie bezeichnet. Yuderkys Espinosa definiert Abya Yala in Begriffen einer Geopolitik der Vergangenheit und Gegenwart mit gegenhegemonialen Positionierungen. […] Der Raum des Abya Yala dient als imaginäre Gegengeographie, die von einer Vielzahl feministischer Positionen aus als ein Raum definiert wird, der nach Dekolonisierung strebt, eine Bedeutung, die metaphorisch, materiell, im Aufbau begriffen und zutiefst politisch ist. In diesem Fall wird Abya Yala als eine imaginäre Gegengeographie verwendet, die direkt den Selbstbestimmungsprozessen der Bevölkerungsgruppen (pueblos) dient und als Bezugspunkt, um dem dekolonialen Feminismus einen Platz einzuräumen. Wenn wir Abya Yala aus der Perspektive des dekolonialen Feminismus betrachten, verstehen wir, dass es nicht nur um eine territoriale Repräsentation gegenüber dem Kolonial-Europäischen geht. Dies wird deutlich, wenn man Abya Ayala unter dem Gesichtspunkt eines Schlüsselkonzepts der Humangeographie analysiert, nämlich dem der räumlichen Vielfalt. […] Der lebendige und vielschichtige Prozess der Dekolonisierungserfahrung muss den Raum als Dimension der Vielfalt berücksichtigen. In den Worten von Doreen Massey: „Wenn die Zeit die Dimension der Abfolge, der Entwicklung oder des Werdens ist, dann ist der Raum die Dimension der gleichzeitigen Existenz einer Vielzahl von Dingen, der Gleichzeitigkeit einer Reihe von Bahnen“ (Massey 2012, S.3). Der Raum „ist relational und muss als die Sphäre der Möglichkeit der Existenz von Vielfalt verstanden werden, die Sphäre, in der eine Vielzahl unterschiedlicher sozialer Bahnen koexistieren kann. Es ist also die Dimension, die uns zwingt, darüber nachzudenken, wie wir zusammenleben können“ (Massey 2012, S.3). Die Vielfalt ist von entscheidender Bedeutung, weil sie die Vielzahl der Stimmen hervorhebt, die sich auf bestimmte Räume innerhalb des geografischen Imaginären von Abya Yala beziehen. […] Die Vielfalt der verschiedenen feministischen Positionen, die von Abya Yala aus geopolitisch genutzt werden, ist also untrennbar mit Begriffen der Intersektionalität verbunden. Abya Yala ist der Ort eines epistemologischen Wandels in der Analyse von Unterdrückung und Politik, um die Transformation von Utopien für den lateinamerikanischen dekolonialen Feminismus zu realisieren. […]
Buen Vivir, als Bestandteil einer Kollektivität mit einer breiten und pluralistischen Plattform, ist in die Epistemologien des Südens eingebunden. Es ist wichtig festzustellen, dass es indigene Autor*innen und indigene Kosmovisionen sind, die das Buen Vivir zum Teil theoretisiert haben, was bei anderen Epistemologien des Südens nicht der Fall war. Es ist hervorzuheben, dass die erkenntnistheoretische Zweideutigkeit des Buen Vivir ein guter Grund für einen Dialog mit dem lateinamerikanischen dekolonialen Feminismus ist, denn hier liegt sein utopisches und politisches Potenzial. Folglich müssen wir davon ausgehen, dass es sich um einen Prozess der ständigen, hybriden Konstruktion handelt, der auf Konzeptualisierungen beruht, die nicht individuell, sondern kollektiv verfasst sind und die in diesem postkolonialen und dekolonialen Möglichkeitsraum von Abya Yala entstehen.
Schließlich greift der dekoloniale Feminismus die Kritik der lateinamerikanischen autonomen feministischen Bewegung an der globalen Agenda des Rechts auf. In diesem Sinne ist der dekoloniale Feminismus der Schlüssel zur Infragestellung des Diskurses über die bloße Gleichstellung der Geschlechter […]. Die hybride Beziehung zwischen dekolonialem Feminismus und Buen Vivir hat ein größeres Potenzial, wenn es um die Kritik der Gleichheit geht, die mit Prozessen der kulturellen Anerkennung identifiziert wird. Die tiefgreifende Kritik des Buen Vivir und des dekolonialen Feminismus setzt dabei an der engen Beziehung zwischen Geschlechtergleichstellung und Entwicklung an. Für Ecuador schlage ich vor, dass sich diese Kritik auch auf die Prozesse der Anerkennung und Gleichheit konzentrieren sollte, die aus der liberalen Tradition stammen. Die Kritik daran aus den Zeiten des Neoliberalismus sollte auf die Gegenwart und die Zukunft ausgedehnt werden. Die Kritik indigener Frauen an den Anerkennungsprozessen beispielsweise, die darauf hinwiesen, dass diese nicht in der Lage waren, eine intersektionale Repräsentation zu erreichen und zu verwirklichen, zeigte die Grenzen des westlichen Diskursespber Rechte und Gleichheit auf. Wenn wir diese Kritik nicht fortführen, verfallen wir in das, was einige als die versteckte Agenda der Geschlechtergleichstellung bezeichnet haben, nämlich die Übertragung von Prinzipien, Werten und Handlungen des hegemonialen Feminismus als Ausdruck der westlichen Moderne. […]
Sofía Zaragocín Carvajal ist Professorin an der Universidad San Francisco de Quito in Ecuador und dort Ko-Direktorin und Koordinatorin des Gender and Territory Institute for Advanced Studies in Inequalities (IASI).
Dieser Text ist eine gekürzte Version des Aufsatzes Feminismo Decolonial y Buen Vivir aus Soledad Varea & Sofiía Zaragocín (Hg.): Feminismo y Buen Vivir. Utopías Decoloniales. Cuenca /
Ecuador 2017, S. 17–25. Gekürzt und aus dem Spanischen übersetzt von Jens Kastner.
Literatur
Alberto Acosta: El Buen Vivir en el camino del post-desarrollo. Una lectura desde la Constitución de Montecristi. Policy Paper 9. Friedrich Ebert Stiftung 2010.
Almudena Cabezas Gonzalez: Mujeres indígenas constructoras de región: desde América Latina hasta Abya Yala. Scientific Journal of Humanistic Studies 2012. (4)6: 12–24.
Lorena Cabnal: Documento en Construcción para aportar a las reflexiones continentales desde el feminismo comunitario, al paradigma ancestral originario del Sumak Kawsay – Buen Vivir. 2014.
Espinosa et al.: Tejiendo de otro modo: Feminismo, epistemología y apuestas descoloniales en Abya Yala. Editorial Universidad del Cauca 2014.
Doreen Massey: For Space. London 2012: Sage.
Catherine Walsh: Geopolíticas del conocimiento, interculturalidad y descolonización. Boletín ICCI-ARY Rimay, 60, 2004.