Etwas Besseres als die Nation im Buch

Ein Standardwerk zum Transnationalismus ist sicherlich das Buch des Soziologen Ludger Pries. Darin werden die Prozesse der Transnationalisierung zunächst als globaler Trend beschrieben, der Mikro-, Meso- und Makroebene des Sozialen betrifft. Transnationale Räume werden als „Konfigurationen von sozialen Alltagspraktiken, Symbolsystemen und Artefakten“ gefasst. Pries beschreibt diese globalen und nationale Grenzen überschreitenden Entwicklungen beispielhaft, und bewertet sie als Prozesse, in denen die „Vielfalt und Ausdifferenzierung“ neuer Lebensweisen nicht Zerfall bedeutet, sondern „neuen Zusammenhalt stiftet“. Dem soziologischen Mainstream macht die Transnationalisierung demgegenüber Sorgen, weil er Sozialstaat und allgemeine Wehrpflicht (!!!) für diejenigen Institutionen hält, „die solidarische Verpflichtungen hauptsächlich organisieren“ (Beckert et al.). Gezielt auf Transnationalisierung zu setzen, ist sicherlich ein Erbe des Internationalismus der ArbeiterInnenbewegung, wie auch Andrea Giunta in ihrer Arbeit über künstlerische Avantgarden in Argentinien hervorhebt. Für die Kunst in Lateinamerika fungierte der Internationalismus ihr nach allerdings weniger als gesellschaftstransformatorisches Projekt, denn als „productive space for prolonging the dispute on the position that the art of this continent should occupy in the history of Western modern art“. Die Studie ermöglicht einen spannenden Einblick in den Zusammenhang von Kunstproduktion, sich verändernden institutionellen Gefügen und politischem Aktivismus. Was die unter dem Titel L’ Internationale beschriebenen Avantgarde-Bewegungen in West- und Ost-Europa zwischen 1957 und 1986 zu politischen AkteurInnen gemacht hat, war, so die Kuratorin Zdenka Badovonac, „the fact that they employed various gestures to create certain micro-political situations“. Der künstlerische Internationalismus wird dabei u.a. als Paradigmenwechsel von der Geografie und den Beziehungen zwischen Ländern hin zu einer Topografie und der Gegenwartskultur in bestimmten Städten verstanden (Piotr Piotrowski). L’Internationale fasst die Ergebnisse einer Kooperation von fünf europäischen Museen zusammen; die HerausgeberInnen begreifen den Internationalismus dabei durchaus als „weapon in the struggle for equitable and more democratic society“. Ausgehend von der Geschichte des 1991 in London gegründeten Institute for New International Visual Arts (INVIA) rekonstruiert Lotte Philipsen einen „New Internationalism“ im Kunstfeld. Sie klammert bewusst gesamtkulturelle Entwicklungen aus, liefert dafür aber eine sehr aufschlussreiche kunstfeldinterne Diskursanalyse: von der Infragestellung der Matrix „westlich gleich modern“ über die Reaktionsweisen – Schwarze und feministische Identitätspolitik vs. Repräsentationskritik – bis zu den Effekten eines globalen Institutionengefüges, das wesentlich inkludierender ist als noch 20 Jahre zuvor. Allerdings kommt sie zu dem überraschenden – und letztlich wohl auch irrigen – Schluss, im Vergleich zu linker Theorieproduktion im Kunstfeld sei der globale Kunstmarkt „more capable of furthering the interests of New Internationalism“. Als anti-(national)staatliche Theorie und Praxis schlechthin kann, zumindest dem Anspruch nach, sicherlich die anarchistische Tradition als transnationalistisch eingestuft werden. Dies zu überprüfen hat sich der Band zum Transnational Turn vorgenommen. Jenseits der Fallstudien zu libertären Bewegungen selbst, erweist sich „anarchist historiography“ als sehr fruchtbar „contribution to the history of globalization or imperialism“ (Bentman/Altena).


Jens Kastner ist Soziologe und Kunsthistoriker.


Constance Bantman / Bert Altena (Hg.), Reassessing the Transnational Turn: Scales of Analysis in Anarchist and Syndicalist Studies. London: Routledge, 2015.

Jens Beckert /Julia Eckert / Martin Kohli / Wolfgang Streeck (Hg.): Transnationale Solidarität. Chancen und Grenzen. Frankfurt am Main / New York: Campus, 2004.

Andrea Giunta, Avant-Garde, Internationalism, and Politics: Argentine Art in the Sixties. Durham: Duke University Press, 2007.

Christian Höller (Hg.), L’Internationale. Post-War avant-gardes between 1957 and 1986. Zürich: JRP | Ringier, 2012.

Lotte Philipsen, Globalizing Contemporary Art: The Art World’s New Internationalism. Aarhus: Aarhus University Press, 2010.

Ludger Pries, Die Transnationalisierung der sozialen Welt. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2008.