… es geht um Ermöglichungsräume, die auch leistbar sind …

Spatium Libre im Gespräch mit Silvia Forlati und Christian Peer (Nordbahn-Halle, Wien) und Reclaim The City (Cape Town / Südafrika)

Bildpunkt: Ihr seid Teil des Teams, das über zwei Jahre hinweg das Areal des ehemaligen Bahnhofsgeländes mit Projekten bespielt hat. Auf der Homepage des Projekts Nordbahn- Halle heißt es, „Ziel der Zwischennutzung war es, Impulse in der Stadtentwicklung zu setzen“. Inzwischen ist die Halle an die Eigentümerin zurückgegeben worden, aber das Demonstrationsprojekt „Mischung Nordbahnhof“ widmet sich weiterhin der „Entwicklung von Nutzungsvielfalt im neuen Stadtteil Nordbahnhof Wien“. Ist das Ziel der Zwischennutzung aus Eurer Sicht erreicht worden und wenn ja, inwiefern?

S.F.: Im Projekt wurden mehrere Ziele gleichzeitig verfolgt. Zum einen wollten wir einen Experimentierort für unterschiedliche Gruppen schaffen. BewohnerInnen, aber auch EntrepreneurInnen, Kulturschaffende, PlanerInnen und auch BauträgerInnen, Junge und Alte sowie Studierende konnten hier andocken und die Halle oder Teile davon nutzen. Zum anderen war uns wichtig zu zeigen, welche Impulse Nicht- Wohn-Nutzungen für ein Quartier bringen können, und wie diese zu Lebensqualität beitragen. Wir haben die Aufgabe des Projektes in der Impulsgebung gesehen und nicht in der langfristigen Bespielung. Dafür sind andere AkteurInnen zuständig, die auch in das Projekt involviert wurden. Dass jetzt eine Diskussion entstanden ist, sehen wir als Erfolg. Auch als ein wichtiges Ergebnis sehen wir etwa den online-Service Raumteiler (auf der Plattform imGraetzl.at), der das Andocken an und das Teilen von Gewerbeflächen für ganz Wien unterstützt.

C.P.: In der Nordbahn-Halle konnten die unterschiedlichen Projektbausteine von Mischung: Nordbahnhof im Zentrum des Transformationsgeschehens bearbeitet werden. Die Präsenz vor Ort und die Einbindung der Nachbarschaft war uns wichtig. Über den kurzen Zeitraum, der uns für diese Intervention zur Verfügung stand, haben wir viel erreichen können – inklusive jener Ergebnisse, die wir uns als unplanbare Impulse gewünscht hatten. Wir hatten glücklicherweise mit den „Care + Repair“-Aktivitäten des Architekturzentrum Wien im Rahmen der Vienna Biennale einen prominenten Auftakt, dessen Innen- und Außenwirkung sich in einer konsequenten inhaltlichen Fortführung bis zur Ausstellung Critical Care im Museumsquartier fortsetzen ließ. Die Nordbahn-Halle war von Beginn an als Impulslabor sichtbar und so ist der Ort schnell zu einem Anziehungspunkt für verschiedenste Interessen geworden. Interessant finde ich, dass sich zu den vorgesehenen informellen Lernprozessen in hoher Intensität auch formale Bildungsaktivitäten eingefunden haben. Das Angebot hat hier von diversen Kursangeboten über universitäre Workshops und Lehrveranstaltungen bis zu Praktikumsplätzen gereicht.

BP: Reclaim the City (RTC), ihr beschreibt euch als Bewegung von Mieter_innen und Arbeiter_innen, die gegen eine weitere Verdrängung aus gut situierten Wohnvierteln und für sicheren Zugang zu würdigem Wohnraum mobilisieren. Warum war es notwendig, solch eine Bewegung in Cape Town zu gründen?

RTC: Obwohl die Verfassung den Staat dazu verpflichtet, Entschädigung zu leisten und gerechten Zugang zu Wohnraum und Landbesitz voranzutreiben, um dem Erbe der Apartheid entgegenzuwirken, hat der Staat es bisher vermieden, robuste Interventionen im Wohnungs- und Grundstücksmarkt zu setzen. 450.000 Familien stehen in Cape Town auf der Warteliste für ein neues Zuhause, doch der meiste öffentliche Boden ist untergenutzt und wird zunehmend privaten Investoren zum höchstbietenden Preis verkauft. Zwar ist Wohnraum für die arme und arbeitende Bevölkerung geschaffen worden, jedoch am Stadtrand. Die steigenden Grundstückspreise und die zunehmende Kommodifizierung von Land führen dazu, dass auch diejenigen sozial schlechter Gestellten, die in besseren Wohnvierteln wohnen, vermehrt von Zwangsräumung und Umsiedlungsmaßnahmen betroffen sind. Deswegen hat 2017 eine Gruppe von Wohnraum-Aktivist_innen, Haus- und Pflege- Personal Reclaim the City als soziale Bewegung gegründet. Wir treten gegen Zwangsräumung und die Verdrängung von Armen und Arbeitenden, gegen den Verkauf öffentlichen Bodens und für eine gerechte Umverteilung von Land und Zugang zu würdigem, leistbarem Wohnen in wohl situierten Gegenden der Stadt ein, nahe an anständiger Arbeit, guten öffentlichen Dienstleistungen und guter Infrastruktur.

BP: Mit welchen Strategien tretet ihr für eine gemeinwohlorientierte Nutzung spezifischer Stadtflächen ein?

C.P.: Es bedarf einer mutigen und zugleich umsichtigen Herangehensweise, um den etablierten Modus der Stadtteilentwicklung mit neuen Ideen zu beleben. Die sogenannte Freie Mitte im Nordbahnviertel ist eine höchst interessante, neuartige Stadtfläche, die einer gemeinwohlorientierten Nutzung im Zusammenspiel mit der umliegenden Bebauung zur Verfügung stehen sollte. So haben wir gesehen, dass mit dem Leitbild „Freie Mitte – Vielseitiger Rand“ des Projektpartners StudioVlayStreeruwitz bereits spannende neue Ansätze vorhanden sind, die im langwierigen Stadtentwicklungsprozess gestärkt werden müssen, um deren zeitgemäße, neuartige Qualitäten weiterentwickeln und tatsächlich zur Umsetzung bringen zu können. Wir haben dafür eine breite Akteurskonstellation eingebunden und versucht, auch an vorhandene Instrumente und laufende Prozesse anzuknüpfen und die Entwicklung des gesamten Stadtteils im Blick zu behalten. Mut zu Zwischennutzungsprojekten bedeutet auch zu erkennen, dass sich die Inhalte der gemeinwohlorientierten Nutzung einer spezifischen Stadtfläche mit dem Baufortschritt verändern können, wenn dabei das Gemeinwohl insgesamt nicht an Bedeutung verliert.

RTC: Viele unserer Mitglieder waren in politischen, Gemeindebasierten und gewerkschaftlichen Strukturen im Kampf gegen die Apartheid aktiv. Wie viele andere soziale Bewegungen hier schöpfen wir aus dieser Tradition der Mobilisierung. Protestmärsche, Landbesetzungen, Gesang und Solidaritätsaktionen sind Teil des sozialen Gefüges der südafrikanischen Gesellschaft. Kern unserer Strategie ist es, die Kämpfe von der Peripherie ins Innere der Stadt zu tragen. Gebäude zu besetzen hat sich als sehr wirksame Taktik erwiesen. Nicht nur bieten sie Unterkunft, sie sind auch Räume zur Weiterbildung und Organisierung. Wir haben auch, dem Beispiel des südamerikanischen escrache folgend, Protestaktionen auf spezifische Individuen gerichtet. So haben wir etwa bei einem früheren Mitglied der Kommission für Stadtentwicklung um 5h in der Früh vor seinem Haus Frühstück gekocht. Wir haben sit-ins gemacht, Reden gestört und Transparente über Autobahnen aufgezogen, und vieles mehr. Jenseits dieser öffentlichen Momente sind wir darum bemüht, unsere tägliche Arbeit nicht patriarchal zu organisieren, die Führungspositionen sind demokratisch gewählt, es gelten flache Hierarchien, es kann nicht eine Person alleine entscheiden, Frauen sind in den Kommissionen in der Mehrheit und wir heißen Kinder bei allen Treffen willkommen.

BP: Die Kämpfe in Cape Town sind deutlich gezeichnet von den Folgen segregierender Stadtpolitik unter dem Apartheid- Regime und ihrer Kontinuitäten. RTC, wie seht ihr diese historischen Zusammenhänge? Und in welchem demographischen Kontext seht ihr das Nordbahnhallen-Projekt, Silvia und Christian?

RTC: Die Apartheid hat durch ihre politische, ökonomische und soziale Diskriminierung tiefe, gewaltsame strukturelle Einschnitte vorgenommen, die eine rassialisierte Geographie der Nation zum Ziel hatten. Aufbauend auf der Enteignung im Kolonialismus sind Schwarze, ‚Coloureds’ und Inder_innen in Townships zwangsumgesiedelt worden. Diese Maßnahmen gemeinsam mit unterdrückerischen Arbeits- und Binnenmigrationsregimen haben tiefe Wunden in den Gemeinschaften hinterlassen. Familiäre Strukturen und soziale Identitäten wurden zerrissen. Nach dem Übergang in die Demokratie wurden die Städte von Verwaltungen regiert, die keinerlei Verständnis davon hatten, wie eine inklusive Stadt gebaut werden könnte. Die Mehrheit obdachloser und landloser Menschen lebt heute in informellen Siedlungen auf besetztem privaten oder öffentlichen Boden. Es ist viel dafür gekämpft worden, hier grundlegende Infrastrukturen zu errichten. Cape Town liegt ironischerweise vor anderen Städten, wenn es um den Zugang zu Wasser und Sanitäranlagen durch Standrohre und Chemie- Toiletten geht. Aber es gibt keinerlei Bestreben, diese temporären Maßnahmen in eine permanente Anerkennung von Miet- und Landrechten umzuwandeln.

S.F.: Es ist klar, dass der Wiener Kontext mit Cape Town kaum vergleichbar ist. Trotzdem ist auch hier in Wien die Frage des öffentlichen Raums relevant. Diese Frage ist auch zentral im Projekt, da geht es uns auch um den Übergang zwischen privatem Wohnraum und öffentlichen Straßenraum, und wie man hier Andockräumen entstehen können, wo auch Kommunikation und Sharing stattfinden kann. Es geht um Diversität und Heterogenität, und um Ermöglichungsräume, die auch leistbar sind. Dafür ist das derzeitige Umseztungsparadigma der Stadtentwicklung – das in der funktionalen Trennung von Wohnen und Arbeiten verankert ist, und in dem Räume für Kultur wenig Aufmerksamkeit bekommen – zu schwach.

BP: Wie würdet ihr euer Projekt im größeren Zusammenhang globaler Stadtentwicklungsprozesse situieren?

S.F.: Das Projekt ist aus dem Versuch entstanden, Stadtentwicklung als integralen Prozess zu verstehen, wo mehrere Disziplinen und Stakeholders zusammenkommen und agieren müssen, und wo man die Trennungen abbauen sollte. In der Halle konnten ganz unterschiedliche AkteurInnen gleichzeitig agieren. Das Projekt selbst ist auch aus einem sehr heterogenen Konsortium entstanden, wo wir auch innerhalb des Projektes einen transdisziplinären Diskurs führen konnten.

RTC: Kämpfe um Land und Wohnen stehen global ähnlichen ökonomischen und politischen Gefahren gegenüber. Jahrzehnte der Deregulierung und Finanzialisierung der Wirtschaft zeigen ihre Wirkung. Immobilien sind eine dieser Waren, die gekauft und mit Profit verkauft werden können. Die Mehrheit der Menschen wird vom Wohnungsmarkt ausgeschlossen, während Mehrwert für diejenigen geschaffen wird, die nie hoffen können, einen Fuß in all die Häuser zu setzen, die sie besitzen. Cape Town zieht einen globalen Tourist_innen-Markt an und die Investoren sind gefolgt. Grundstückspreise in exklusiven Wohngegenden sind nun in der gleichen Liga wie in Städten im globalen Norden, mit einer ähnlichen jährlichen Wachstumsrate. Aber der größte Teil der Stadt bleibt unterentwickelt. Per Gesetz ist die Stadt eigentlich dazu verpflichtet, einen Anteil zahlbaren Wohnraums in jedem neuen Bauprojekt sicherzustellen. Aber die Umsetzung lässt auf sich warten.

BP: Wie lässt sich – ganz grundsätzlich – verhindern, dass Projekte der Zwischennutzung nur die Vorreiter einer städtischen Aufwertung sind, die schließlich Wohnraum verteuert und damit Menschen aus den Zentren in die Randbezirke vertreibt?

S.F.: Zwischennutzung hat prinzipiell mit einer Aufwertung zu tun: Ein sonst nicht genutzter Raum wird temporär genutzt und somit automatisch aufgewertet. Die Antwort liegt nicht in der Zwischennutzung selbst, sondern in den Rahmenbedingungen und in der Motivation der beteiligten AkteurInnen. Ich/ wir sehen schon die Möglichkeit, durch Zwischennutzungen Kommunikationsräume und freie Räume zu schaffen, die auch langfristig Impulse für das Gemeinwohl auch von weniger ökonomisch starken Gruppen liefern.

C.P.: Das sehe ich ebenfalls in dieser Ambivalenz. Hilfreich ist eine möglichst gut sichtbare Akteurskonstellation, die sich gemeinsam auf Qualitäten verständigt und sich zu diesen verpflichtet. Gerade in größeren Entwicklungsvorhaben wird darüber hinaus ein konstruktiver und verantwortungsvoller Umgang mit veränderten Rahmenbedingungen benötigt. Zwischennutzungen haben sich dabei als wertvolle Katalysatoren und Impulsgeber erwiesen.


Silvia Forlati und Christian Peer sind Teil der Initiative Nordbahn-Halle in Wien. Reclaim The City arbeitet in Cape Town, Südafrika, unter dem Motto „Land for people, not profit!“.

Übersetzung der Antworten von RTC aus dem Englischen von Sophie Schasiepen. Das Gespräch wurde im Oktober und November 2019 von Sophie Schasiepen und Jens Kastner per E-Mail geführt.