Das Scheitern ist der Lord Voldemort der soziologischen Theoriebildung; der „Du-weißt-schon-wer“ einer Wissenschaft, deren Fokus lange nur auf erfolgreichem Handeln und positiven sozialen Prozessen lag. Was Richard Sennett noch Ende der 1990er-Jahre als ausgeklammertes Tabu bezeichnete,1 feiert die Managementliteratur heute als Wundermittel zur Selbstoptimierung. Neoliberale Heilsversprechen tun ihr Übriges, um die Verantwortung für soziale und wirtschaftliche Ergebnisse auf das Individuum zu verlagern: Wir sind schließlich selbst für unseren Erfolg verantwortlich.
Kunst als soziales Experimentierfeld
In der Kunst spielt das Scheitern – von der Diskrepanz zwischen Idee und Durchführung über den offenen Ausgang von Versuchsanordnungen bis hin zur unerfüllbaren Suche nach Perfektion – eine maßgebliche Rolle: Die Kunst und das Spiel eröffnen als nicht-ergebnisorientierte Experimentierfelder Räume, in denen alternative Lösungsansätze ohne drohende Sanktionen ausprobiert werden können. Zeitbasierte Kunst, laut Boris Groys eigentlich „kunstbasierte Zeit“, ist in dieser Hinsicht besonders spannend, weil sie selbst soziale Wirklichkeit hervorbringt.
Setzen sich Künstler*innen performativ mit Aufgaben auseinander, die unweigerlich scheitern, wird außerdem jene „vergeudete“ Zeit sichtbar, die eine zielorientierte Gesellschaft aus ihren historischen Erzählungen ausschließt.2 Bas Jan Ader, Cathy Sisler und Francis Alÿs haben dafür ihre eigenen Strategien entwickelt: von der performativen Hervorbringung eines hochtrabenden Risikos über die provokante Normabweichung bis hin zur exorbitanten Verausgabung.
Bas Jan Ader: Ein tragikomischer Moment der Selbsthingabe
Der Konzept- und Performancekünstler Bas Jan Ader untersucht das Scheitern auf individueller Ebene. In seiner Videoserie der Falls (1970–1971) begibt er sich absichtlich in Zustände der Schwebe, die unweigerlich in einem Fall enden: Er verliert das Gleichgewicht auf einem Häuserdach in Fall I (Los Angeles), manövriert sein Rad gefährlich nahe an eine Gracht in Fall II (Amsterdam), hält einen schweren Backstein in die Höhe (Nightfall), pendelt waghalsig vom Ast eines großen Baumes in Broken Fall (Organic), Amsterdamse Bos, Holland, und wird in Broken Fall (Geometric), Westkapelle Holland auf einem Bein balancierend vom Wind umgeblasen. Die kurzen One-Shot-Videos enden abrupt mit dem Sturz in die Tiefe. Das 16mm-Format, meist in Schwarz-Weiß und immer ohne Ton, verleiht ihnen einen dokumentarischen, etwas entrückten Charakter.
Der Fall wird hier zur Metapher für das Scheitern: Beide Erfahrungen sind durch absolute (soziale) Handlungsunfähigkeit gekennzeichnet. Der Künstler bringt den Moment des Kontrollverlusts, hier wohlgemerkt positiv konnotiert, bewusst hervor. In der darauf zulaufenden Schwebe zeigt sich, so Maike Aden-Schraenen, sein „selbstbestimmter Wille zur Lebenssteigerung im Kontrast zu einer Welt der determinierenden Stabilität“3. Auf tragikomische Art gibt er seinen Körper dem unausweichlichen Schicksal preis und verhandelt dieses gleichzeitig mit einer an Slapstick erinnernden Komik und Leichtigkeit.4
Cathy Sisler: Eine Frage der Handlungs-ermächtigung
Cathy Sisler nutzt den Slapstick, um Brüche in der zwischenmenschlichen Kommunikation aufzuzeigen. Aus einer queer-feministischen Perspektive heraus untersucht sie das Potenzial performativer Gesten, neue Handlungsräume zu eröffnen: In der zwischen 1994 und 1996 in den Straßen Montreals entstandenen vierteiligen Videoserie Aberrant Motion, wirbelt sie unkontrolliert herum, dreht sich um die eigene Achse, wirft Bälle in eine Menschenmenge und taumelt vor sich hin; in der daran anschließenden Arbeit Lullabye for the Almost Falling Woman stolpert und stürzt sie unablässig. Die per Handkamera in Farbe gedrehten Szenen in der Totalen zeigen, wie die Künstlerin den zielstrebigen Fluss der Passant*innen stört: Vorbeieilende Personen weichen aus, beachten sie aber nicht weiter.
Für Sislers Protagonistin bedeutet ein geradliniger Gang die Fähigkeit, sich einzuordnen. Ihr selbst bleibt das verwehrt. Eine Off-Stimme kommentiert: „The more she tries to save herself, the more awkward she appears.” Das bewusste Stören der öffentlichen Ordnung ist ein widerständiges Befragen der Unmöglichkeit, sich als queere Person in normative Gesellschaftsstrukturen einzufügen – ihre dahingehenden Versuche sind zum Scheitern verurteilt. Zugleich sind ihre Bewegungen im Raum nicht nur performative Akte der Selbstbehauptung, sondern auch ein Versuch, normative Grenzen subversiv zu unterwandern, zu verschieben und schließlich aufzulösen.
Francis Alÿs: Von der poetischen Geste zur -sozialen Allegorie
Francis Alÿs spricht 2002 mit der kollaborativen Performance When Faith Moves Mountains (Cuando la fe mueve montañas) ein Scheitern auf gesamtgesellschaftlicher Ebene an: In Ventanilla, einem sozioökonomisch benachteiligten Außenbezirk Limas, versetzten 500 Freiwillige mit Schaufeln eine Sanddüne von einem halben Kilometer Länge um exakt zehn Zentimeter. Die politische Dimension der Performance bestand in der schieren Größe dieser so heroischen wie absurden Geste: Die Idee, durch maximalen Aufwand ein minimales Resultat herzustellen, pervertiert demonstrativ den ökonomischen Grundsatz der Effizienz. Die Mühsal der Ausführung steht in keinem Verhältnis zum unmittelbaren Resultat dieses Kraftaktes, das außerdem in absehbarer Zeit durch den Wind wieder zunichte gemacht werden sollte.
Die gestische Verausgabung der Kräfte und die Ausführung einer „absurden“ Tätigkeit verweist auf die Desillusion angesichts der gewaltsamen Vertreibung und wirtschaftlichen Unterdrückung in Peru, das sich damals gerade erst aus der Diktatur Fujimoris befreit hatte. Die im Titel angerufene Kraft des Glaubens verweist aber auch auf die poetische Macht der Bilder und auf die Macht der Graswurzelbewegungen in politischen Willensbildungsprozessen. Die poetisch-politische Geste des Bergeversetzens sollte Erzählungen anstoßen, die das Werk zur sozialen Allegorie werden lassen.5
Archetypische Erzählungen zur Bedeutungs-verschiebung
Offensichtlich gibt es ein spannendes Wechselverhältnis von archetypischen Erzählungen aus der Mythologie, den körperlich-konzeptuellen Ausdrucksformen der Performance- und Videokunst sowie den Logiken moderner Fortschrittsideologien. Mythologische Figuren dienen zeitgenössischen Künstler*innen jedenfalls nicht nur als visuelle Inspirationsquelle, sondern auch als interpretativer Rahmen für künstlerische Praktiken, die sich mit Wiederholungen des immer Gleichen, mit nicht-zielorientierten Verhaltensweisen oder mit unermüdlichen Verpflichtungen gegenüber absurden, willkürlichen oder undurchschaubaren Regeln oder Befehlen auseinandersetzen.6 Für detaillierte Ausführungen zu den mythologischen Bezügen der Künstler*innen ist hier kein Platz, es sei aber erwähnt, dass der Camus’sche Sisyphus auch deshalb als Vorbild gilt, weil er durch seine Aktivitäten zwar nicht vor der Absurdität des Lebens bewahrt wird, sehr wohl aber vor der Verzweiflung, die ihm angesichts der nüchtern und objektiv betrachteten Sinnlosigkeit droht. Er schafft sich seinen eigenen, subjektiven Sinn.7
Bas Jan Ader, Cathy Sisler und Francis Alÿs machen das Scheitern als Konzept mittels Gesten produktiv: Sie setzen es exzessiv, ironisch oder subversiv in Szene, um es radikal zu hinterfragen und inhaltlich neu zu besetzen.8 So eröffnen sie neue Handlungsräume: Kunst unterläuft Vorstellungen oder bricht mit ihnen, zeigt Widersprüche und Ambivalenzen auf und stellt neue Bedeutungszusammenhänge her; darin liegt eine große Relevanz für die Bewältigung unseres Lebens. Wir müssen Voldemort beim Namen nennen, um ihm den Schrecken zu nehmen.
1 Richard Sennett: Der flexible Mensch: Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin: Berlin-Verlag, 1998.
2 Für Boris Groys ist zeitbasierte Kunst eigentlich kunstbasierte Zeit. Siehe Boris Groys, Comrades of Time, e-flux 11, Dezember 2009, online unter: www.e-flux.com/journal/11/61345/comrades-of-time (4. 11. 2024).
3 Maike Aden-Schraenen, Bas Jan Ader als absurder Held: Die Moderne im und als Fall, NEUE kunstwissenschaftliche forschungen, Utopien der Moderne, Heft 1, Oktober 2014, 26–38.
4 Siehe Jan Verwoert, Bas Jan Ader: In search of the miraculous, London: Afterall Books, 2006.
5 „[A]rt provokes a moment of suspension of meaning […] that reveals the absurd of the situation and […] makes you […] revise your prior assumptions about this reality. And when the poetic
operation […] allows a distancing from the immediate situation, then poetics might have the potential to open up a political thought.” Russell Ferguson/ Francis Alÿs (2007): Interview: Russell Ferguson in conversation with Francis Alÿs, in: Francis Alÿs, hg. von Cuauhtémoc Medina, Russell Ferguson und Jean Fischer, London u.a.: Phaidon Press, 7–55, hier: 40.
6 Siehe dazu Emma Cocker: Over and Over, Again and Again, in: Contemporary art and classical myth, hg. von Isabelle Loring Wallace und Jennie Hirsh, Farnham: Ashgate, 2011, 267–294, hier: 267.
7 Boris Groys nennt Sisyphus als mythologische Verkörperung der unendlichen ziel- und zwecklosen Mühsal sogar einen proto-zeitgenössischen Medienkünstler.
8 Die Geste wird hier verstanden als ein zwischen Sprache und Körperlichkeit angesiedelter, willentlicher Akt, der vom Ablauf gewöhnlicher Handlungen losgelöst ist und aufgrund seines zitathaften Charakters das Potential zur kritischen Praxis hat. Siehe dazu auch Walter Benjamins „unterbrochener Handlungszusammenhang“, Jaques Derridas Konzept der „Iterabilität“ oder Judith Butlers „Geste als Ereignis“.
Dieser Text basiert auf dem im Open Access veröffentlichten Buch Scheitern als Performance (www.transcript-verlag.de/978-3-8376-5818-7).
Nicole Alber ist Kunsthistorikerin und lebt in Wien.