Bildpunkt: Die Kritik am Wachstum hat viele Dimensionen. Sie kann antikapitalistisch, ökologisch, feministisch, kulturkritisch, dekolonial oder noch ganz anders motiviert sein. Nicht selten werden unterschiedliche dieser Ebenen miteinander verknüpft. Welche sind für euch die entscheidenden Aspekte einer degrowth-Perspektive?
M.C.H. & S.S.: Artists for Future (A4F) versteht sich als Allianz mit der von Schüler*innen getragenen Bewegung Fridays For Future (FFF), daher ist unser Engagement vor allem ökologisch motiviert. Dennoch schwingen alle anderen Dimensionen mit. Man könnte auch sagen, die Klimakrise ist ein Symptom, das aus den genannten „Problembereichen“ resultiert. Es ist hinlänglich bekannt, dass die aktuelle ökologische Krise aus unserem kapitalistischen Wirtschaften, aus dem Glauben an unendliches Wachstum und aus der kolonialen Ausbeutung resultiert. Im Rahmen von A4F gilt es auch zu diskutieren, wie ein globaler Kunstmarkt nachhaltiger werden kann. Die meisten Künstler*in – nen sind sehr mobil – internationale Ausstellungen, Residencies, Auftritte, Festivals etc. Wie können Kunst und Kunstmarkt international nachhaltig funktionieren? Das wird zum Teil bereits diskutiert. In der italienischen Vogue etwa wurden Collagen und Illustrationen verwendet anstatt Fotostrecken, die mit enormen Energieaufwand produziert werden. Die andere Frage ist, wie können erfolgreiche Künstler*innen ihre Kontakte zu Macht, Geld und Politik nutzen, um Wachstumskritik mit ihren Sammler*innen und Förder*innen zu thematisieren?
I.F.: Im Rahmen unserer degrowthvienna2020-Konferenz heißen wir alle diese Perspektiven sehr willkommen und möchten sie miteinander verknüpfen. Wen wir natürlich nicht dabei haben wollen, sind rechte Wachstumskritiker*innen. Mit neuen Formaten und dadurch, dass wir auch viele Aktivist* innen, Gruppen und Organisationen dabeihaben, möchten wir den Austausch und die Diskussion zwischen Wissenschaft und Zivilgesellschaft fördern. Wir glauben, dass es viele Wege gibt, das Ziel einer degrowth-Gesellschaft zu erreichen. Es sind Ansatzpunkte im Großen und im Kleinen. Mit unserer Konferenz wollen wir explizit dazu anregen, über Strategien nachzudenken und sie weiterzuentwickeln.
Bildpunkt: Iris, auf der Homepage von degrowthvienna2020, der Ende Mai/ Anfang Juni in Wien stattfindenden Konferenz zum Thema, heißt es u.a.: „Das Wohlergehen aller und die Rücksicht auf ökologische Grenzen“ stünden für eine gerechte und nachhaltige Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung „an oberster Stelle“. Warum ist es wichtig, beide Aspekte – allgemeines Wohlergehen und Ökologie – miteinander zu verknüpfen?
I.F.: Es ist ja so, dass die ökologische Krise vor allem von denen, die viel Geld haben, verursacht wird. Einerseits weltweit – die Länder und die Konzerne des Globalen Nordens sind die Hauptverursacher der Klimakrise. Andererseits stellt sich die Verteilungsfrage auch sehr stark innerhalb westlicher Gesellschaften: Reiche fliegen mehr, haben dickere Autos, kaufen mehr ein – gleichzeitig werden dem einkommensschwachen Teil der Gesellschaft kontinuierlich Sozialleistungen gekürzt. Das müssen wir uns immer wieder vor Augen führen, besonders wenn wir, wie auf unserer Konferenz, Strategien für einen Ausweg aus der Krise erarbeiten: Wir müssen unsere Gesellschaften so gestalten, dass alle Menschen ein sinnerfülltes, sicheres und gutes Leben führen können, das nicht auf Kosten anderer und der Umwelt geht.
Bildpunkt: Artists for Future hat sich in Solidarität mit der Schüler*innen-Bewegung Fridays For Future gegründet. In einer Stellungnahme heißt es sehr schön: „Kunst reflektiert und schafft gesellschaftliche Realitäten. Oder stellt sie in Frage. Deshalb tragen wir eine Mitverantwortung für das, was gesellschaftlich als normal wahrgenommen wird.“ Gegen welche Normalität wollt ihr vorgehen?
M.C.H. & S.S.: Die „Normalität“ vom Dezember 2018, als Fridays For Future (FFF) in Solidarität mit Greta Thunberg gegründet wurde (und in weiterer Folge auch die Allianz A4F), hat sich unter dem Eindruck des globalen Klimaprotests bereits kräftig verschoben: Die einstige Normalität des völlig sorg- und reflektionslosen Umgangs mit Ressourcen, der Glaube, dass Lebensqualität nur mit stetigem ökonomischen Wachstum zu erreichen ist sowie die Leugnung des Klimawandels sind nicht nur durch die Klimaprotestbewegung, sondern auch durch das hautnahe individuelle Erleben des globalen Niederbrechens der ökologischen Systeme buchstäblich „Schnee von gestern“ oder zumindest kräftig ins Wanken geraten. A4F agiert wie FFF möglichst aktuell, anlass- und wissenschaftsbezogen (z.B. der Aufruf zur Energiewende während der OPEC-Tagung in Wien im November 2019), daher wird jeder neue klimabezogene Aspekt der Realität in unsere weiteren Aktionen einfließen.
Bildpunkt: Die ständig erweiterte, vollständige Entfaltung der Produktivkräfte war ja lange Zeit auch in der marxistischen Linken ein positiv konnotiertes Anliegen. In der Kunstgeschichte sind avantgardistische Strömungen ohne Insistieren auf Neuheit und Weitersein nicht zu denken. Wir stehen also in der Linken wie auch in der Kunst in Bezug auf Wachstum keineswegs automatisch auf der richtigen Seite. Was tun?
M.C.H. & S.S.: Kann „Avantgarde“ im Sinne von Weiterentwicklung der Künste – aus dem aktuellen Blickwinkel betrachtet – nicht auch so gedacht werden, dass Kunstschaffende künftig die Konsequenzen ihres künstlerischen Handelns vermehrt auf ökologische und ökonomische Tauglichkeit hin befragen, ohne ihre Strategien verleugnen zu müssen? Es ist sicherlich oft ein Balanceakt: Welche Materialien verwende ich? Mit welchen Institutionen und Szenen arbeite ich zusammen? Wie stehe ich und wie stehen diese zu Nachhaltigkeit, Klimaschutz und degrowth? Wie sieht meine Mobilität aus? Aber wie bei so vielen kulturpolitischen Fragestellungen (wie etwa der wichtigen des künstlerischen Prekariats) kann auch hier nichts mit Zwang, sondern nur mit Meinungsbildung und Vorbildwirkung erreicht werden. Wachstumskritisch und klimaschonend zu denken und zu handeln muss einfach „cool“ sein. A4F will und darf Kunstschaffenden jedoch nicht dogmatisch vorschreiben, wie sie leben und arbeiten sollen. Es geht um stete Bewusstseinsbildung.
I.F.: Natürlich hat die Entwicklung neuer Technologien und auch die Ausbeutung fossiler Energien einiges zum Wohlergehen vieler Gesellschaften beigetragen – leider aber auch zu Umweltzerstörung und steigender Ungleichheit geführt. Da wir jetzt an die planetaren Grenzen stoßen, müssen wir uns darauf konzentrieren, den vorhandenen Wohlstand gerecht zu verteilen. Eine Wirtschaft, die immer weiter wächst, ist keine Option, das Konsumniveau und der materielle Wohlstand sprengen ja schon heute alle ökologischen Grenzen. Es geht darum, den vorhanden Wohlstand gerecht zu verteilen und Konsum runterzufahren. Da die Politik des wachsenden Kuchens so nicht weitergehen kann, muss man sich jetzt dieser Frage umso mehr stellen.
Bildpunkt: Von links wird an Wachstumskritik und degrowth- Perspektive oft die Verkürzung auf Konsum(kritik) kritisiert. Es nütze nichts, auf Einkäufe im Bioladen und Flugscham zu setzen, solange Schwerindustrie und Ölmultis nicht angetastet würden. Eigentums- und Produktionsverhältnisse müssten in den Vordergrund der Kritik gerückt werden. Was meint ihr?
I.F.: Das sehe ich auf jeden Fall genauso. Der degrowth-Ansatz ermöglicht es uns, diese beiden Aspekte zusammenzudenken: Einerseits geht es darum, die Bedeutung eines kulturellen Wandels zu betonen, denn anders können Menschen wohl kaum davon überzeugt werden, ihr Verhalten zu ändern. Anderseits müssen wir uns aber auch ganz stark auf die Machtverhältnisse konzentrieren und dort einen Hebel ansetzen. Starke soziale Bewegungen, die demokratische Kontrolle über die Wirtschaft einfordern, sind eine der entscheidenden Treiber der sozial-ökologischen Transformation.
M.C.H. & S.S.: Wir möchten hier keine Entweder-oder-Logik verfolgen, sind wir doch Bürger*innen und Konsument*innen zugleich. Deshalb stellen wir Forderungen an Politik und Wirtschaft, klimaneutrale Maßnahmen hinsichtlich Industrie und Mobilitätswirtschaft gesetzlich zu verankern, gleichzeitig können wir selbst sofort damit anfangen, deutlich ressourcenschonender zu leben. Künstler*innen haben den Vorteil, dass ihnen aus ihrer Profession der Zugang zu kreativen Lösungen für beides hilft und damit können sie „role models“ für viele andere werden.
Bildpunkt: Apropos Klimawandel und globale soziale Verantwortung: Wie steht ihr zum neuen Regierungsprogramm?
M.C.H. & S.S.: Viele Klimaaktivist*innen sind vorerst einmal erleichtert, dass durch die Koalitionsbeteiligung der Grünen Türkis-Blau abgewendet wurde. Man wird die neue Regierung nun beobachten und an ihren Taten messen. A4F wird in Unterstützung von FFF versuchen, die Regierung fortwährend daran zu erinnern, was konkret getan werden muss, um die Pariser Klimaziele auch wirklich zu erreichen. In diesem Sinne laden wir jetzt schon dazu ein, sich den Artists for Future anzuschließen und beim nächsten globalen Klimastreik am 24. April mit uns in Erscheinung zu treten.
I.F.: Meine Meinung dazu ist eher kritisch, das Programm ist bei genauerer Analyse vorwiegend alter Wein in neuen Fässern. In den Bereichen Klimaschutz werden zwar Schritte in die richtige Richtung gesetzt, wie z.B. der Ausbau der Öffis, aber schmutzigen Sektoren und Praktiken wird kein Riegel vorgeschoben. Was wir bräuchten ist eine grundlegende Transformation unseres Wirtschaftssystems. Der Slogan von Kurz „Klima und Grenzen schützen“ fällt in die Kategorie „unterste Schublade“ und ist noch dazu zynisch: Dadurch, dass die Regierung viel zu wenig für den Klimaschutz tut, heizt sie ja die Klimakrise an und treibt damit auch immer mehr Menschen in die Flucht.
Maria C. Holter ist Kunsthistorikerin und Kuratorin, Susanne Schuda aka Schudini The Sensitive, call me Franz (Artists for Future)
Iris Frey arbeitet als Campaignerin bei Attac Österreich und im Organisations-Team der degrowthvienna2020-Konferenz, die vom 29. 5. – 1. 6. 2020 in Wien (bzw. online) stattfindet, www.degrowthvienna2020.org
Das „Gespräch“ wurde im Jänner und Februar 2020 von Jens
Kastner und Sophie Schasiepen per E-Mail geführt.