Das Neue und die Selbstexotisierung

Nachtrag zur documenta fifteen

Es hatte letztlich viel von einer vertanen Chance. Die Auseinandersetzung um die documenta fifteen hat einiges an Potenzial besessen, lang schon formulierte Kritik am Kunstfeld weiterzuführen. Das hat aus verschiedenen Gründen nicht oder nur sehr peripher stattgefunden. Die documenta fifteen allein auf die antisemitischen Bildsprachen, die dort gezeigt wurden, und die relative Unfähigkeit zu reduzieren, sich angemessen damit auseinanderzusetzen, greift sicherlich zu kurz. Es hat eine Vielzahl künstlerischer Arbeiten gegeben, die der Vorwurf nicht trifft. Vor allem aber wurden mit dem kuratorischen Konzept der ruangrupa viele der gängigen Arten und Weisen infrage gestellt, wie Großausstellungen zeitgenössischer Kunst gemacht werden, worüber sich zu freuen es aus linker Perspektive einigen Anlass gab – oder gegeben hätte.

Unter der Überschrift „Wie man die Dinge anders macht“ erläuterte das Kurator*innen-Kollektiv im documenta-Handbuch seine Grundsätze und Herangehensweisen. Das Kunst-Kollektiv ruangrupa bezog das lumbung-Prinzip auf die eigene Ausstellungspraxis: Lumbung ist ein Begriff aus dem modernen Indonesisch, der eine Reisscheune bezeichnet, in der die Mitglieder einer Dorfgemeinschaft ihre Ernten gemeinsam aufbewahren und verwalten. Damit sollten „Fragen der Ökonomie, Eigentümerschaft, Arbeit und des Austauschs zu einer Sache der Kultur“ gemacht werden. Als grundlegende Werte des lumbung-Prinzips wurden „lokale Verankerung, Humor, Großzügigkeit, Unabhängigkeit, Transparenz, Genügsamkeit und Regeneration“ genannt. Die lumbung-Künstler*innen diskutierten, inwiefern „Kunst im Leben und in sozialen, aktivistischen, wirtschaftlichen Praktiken wurzelt und sich nicht auf Disziplinen oder Definitionen beschränkt“. Es sollten „rhizomartige Strukturen“ aufgebaut werden. Dabei sollten Kunstwerke entstehen, „die nach neuen Les- und Verständnisarten verlangen werden, Kunstwerke, die im realen Leben in ihren jeweiligen Kontexten funktionieren“.

Die documenta fifteen brach so mit vielen Gepflogenheiten des Kunstfeldes. Neben dem unverstandenen Antisemitismus brachte das Konzept von ruangrupa aber noch zwei weitere Probleme mit sich: Es produzierte eine Selbst-Exotisierung und reproduzierte zugleich die kunstfeldinterne Logik des notwendig Neuen. Das war unter anderem der Ahistorizität der documenta geschuldet. Mit dem Unwillen oder der Unfähigkeit, die eigene Praxis in die Geschichte des Feldes einzuordnen, Anschlüsse zu suchen und Abgrenzungen zu argumentieren, hat das Leitungsteam eine große Chance verstreichen lassen. Es erneuert damit nämlich nicht nur die Logik des Kunstfeldes, deren Akteur*innen sich gerne und konstitutiv als Schöpfer*innensubjekte ohne Vorbedingungen gerieren, als Neuerer*innen ex nihilo. Im Anschluss an Theodor W. Adorno hatte bereits Peter Bürger die „Neuheit“ als zentrale „ästhetische Kategorie“ ausgemacht, die Jürgen Habermas wegen der Verherrlichung der Aktualität auch als „Kult des Neuen“ kritisiert hatte. Aber auf die konstitutive Tradition des „westlichen“ Kunstfeldes, mit dem Bestehenden zu brechen und alles anders machen zu wollen, gingen ruangrupa mit keinem Wort ein.

Scheinbar paradoxer Weise ging dieser Anspruch des Anders-Machens mit einer Selbstexotisierung einher, die die Erkenntnis, dass „Kunst im Leben und in sozialen, aktivistischen, wirtschaftlichen Praktiken wurzelt“ und das andere Betrachten von Kunstwerken, das auf deren infrastrukturelle Kontexte abhebt, allein den „lumbung-Werten“ zuschreibt. Das Kurator*innenkollektiv positioniert sich selbst als das Andere, das mit den bisher dominanten Kunstauffassungen nichts zu tun hat. In der ausführlichen Erläuterung ihrer Herangehensweise heißt es ganz explizit, in Europa gebe es „eine starke Neigung zu zentristischen Ideen über Wissen, Geschichte und Kunst“. Ohne dass diese „starke Neigung“ weiter differenziert würde, stellt sie ganz offensichtlich die Abgrenzungsfolie dar, vor der sich Konzept und Ausstellung von ruangrupa entwickelt haben. Die „starke Neigung“ galt es im Kommunikationszentrum der documenta, dem ruruHaus, zu „dezentralisieren oder dekomprimieren“.

Dass die historischen Avantgarden das Kunstsystem schon vor mehr als Einhundert Jahren von innen anzugreifen versucht hatten und Kunst mit sozialrevolutionären Prozessen verbinden oder auch nur mit dem Alltagsleben versöhnen wollten, griffen ruangrupa nicht auf. Dass diese Avantgarden dabei zuweilen sogar gegen Kolonialismen und gegen Rassismus auftraten, was etwa von postkolonialistischen Theoretiker*innen wie Achille Mbembe herausgestellt wurde, blieb unerwähnt. Ansätze wie den kulturellen Materialismus oder jenen Pierre Bourdieus, die das Kulturelle ökonomisch denken, institutionskritische Künstler*innen und das „Zusammenspiel von Kunst und Feminismus“ als Kritik am Kunstsystem, die vielen Kunstkollektive der 1970er Jahre, die im Anschluss an Gilles Deleuze auch im Kunstfeld geführten Debatten um das „Rhizom“ als Allianz oder auch die Tendenz, Praktiken wie Gärtnern, Kochen usw. zur Kunst aufwerten zu wollen – all diese Positionierungen, Akteur*innen, Initiativen und Politiken kennen ruangrupa nicht oder wollen sie nicht kennen.

In ihrer „anti-westlichen“ Pose verbinden sie damit geschickt-ungeschickt zwei Traditionen, die die „westliche Kultur“ nur zu gut kennt: zum einen die Behauptung, dass es eine relative Einheitlichkeit des Kulturellen gibt, das von Außeneinflüssen zwar kulinarisch bereichert, aber – Exotik eben – kaum grundsätzlich verwandelt werden kann; zum anderen die gerade in Kunstkreisen so lange und gerne lancierte Behauptung, kreative Innovation entstehe quasi ohne Zusammenhang und ohne Schranken, ohne Vorläuferinnen und ohne Erbschaft.

Geschickt ist das insofern, als dass es eben nach wie vor eine Voraussetzung für den Erfolg im Kunstfeld ist, sich selbst als Repräsentant*in des „Neuen“ darstellen zu können und dieser Darstellung zu Legitimation zu verhelfen – was allein schon dadurch bewerkstelligt wird, dass mit der documenta die nach wie vor bedeutendste Ausstellung zeitgenössischer Kunst kuratiert wurde. Ungeschickt ist das alles insofern, als es durch die ahistorische, homogenisierende und kontextblinde Sicht auf das „zentristitsche“ Kunstsystem eine Ausblendung betreibt, die Allianzen verhindert. Dem angestrebten Anliegen, eine dekolonialistische Vernetzung auf Augenhöhe zu ermöglichen, läuft das jedenfalls fundamental zuwider.


Jens Kastner ist Soziologe und Kunsthistoriker und unterrichtet an der Akademie der bildenden Künste Wien. www.jenspetzkastner.de