Class matters im Buch

Auch und gerade weil der Zusammenhang von Kunst und Klasse im Alltag des Kunstbetriebs ebenso wie in der ästhetischen Theorie so wenig thematisiert wird, betont Ben Davis: „Class is an issue of fundamental importance for art.“ Nicht bloß der gestiegene Einfluss des Marktes und die superreichen SammlerInnen sind für die immense Bedeutung von Klasse in Bezug auf Kunst zentral. Auch und gerade die Rolle der KünstlerInnen selbst ist dafür ausschlaggebend: der künstlerische Traum, von der eigenen Arbeit relativ unabhängig leben zu können, ist – wie auch die Form der Arbeit selbst – typisch für die Mittelklasse. Eine solche realistische Einschätzung des eigenen Status könne letztlich dazu führen, so Davis’ Plädoyer, den strukturellen Individualismus des Kunstfeldes „by political analysis into the living tissue of social engagement“ zu überführen.

Auch wenn KünstlerInnen häufig überqualifiziert und verschiedenen Ungewissheiten ausgesetzt sind und damit wesentliche Kriterien dessen erfüllen, was Guy Standing das Prekariat nennt, gehören sie wohl doch nicht zu dieser „Klasse im Entstehen“. Nach seinem viel diskutierten Buch Prekariat. Die neue explosive Klasse (2015) legt Standing nun eine Charta des Prekariats vor. Darin analysiert er beeindruckend informiert und vielfach treffend gegenwärtige Prekarisierungsprozesse. Aber wie schon im ersten Werk schreibt er dem Prekariat emanzipatorische Eigenschaften zu, wie etwa den Wunsch, „der Lohnarbeit körperlich und mental zu entfliehen“. Wären diese Merkmale in der Wirklichkeit so einheitlich vorzufinden, wären wohl die neoliberalen Appelle an Selbstoptimierung effektlos verhallt.

Eben jene Verknüpfung von deskriptivem und normativem Klassenbegriff, die der Suche nach dem revolutionären Subjekt geschuldet ist, hält Hans-Günter Thien für einen der „Grundfehler der Vergangenheit“ in der Klassenanalyse. Von der Analyse besonderer Verhältnisse lässt sich eben nicht einfach auf die potenzielle Praxis der in ihnen Lebenden schließen.

Ähnlich argumentiert Torsten Bewernitz, wenn er darauf hinweist, dass „poststrukturalistische Theorien und dekonstruktivistische Modelle“ sich hinsichtlich des Klassenbegriffs von „der marxistischen Rezeption“ verabschiedet hätten, die Klasse „als tätiges, mit sich selbst identisches und homogenes Subjekt“ und als „kollektiven Akteur“ begriffen habe. Dies sei aber „kein Abschied von Marx“, betont Bewernitz und plädiert in seiner lohnenden Diskussion von marxistischen bis queeren Ansätzen ebenfalls dafür, weiterhin Klassenverhältnisse zu analysieren. Dass Klasse jedenfalls nicht nur eine ökonomische Kategorie ist, sondern auch Statusfragen und kulturelle Identitäten betrifft, darauf verweist seit einigen Jahren der Begriff des Klassismus.

Es gebe „keinen gesellschaftlichen Bereich, keine Institution“, schreiben Andreas Kemper und Heike Weinbach in ihrer Einführung, „die nicht auch klassistisch geprägt ist“. Klassenherkunft entscheidet demnach über Karrierechancen und über Lebensweisen schlechthin. Dass feministische Theorie darauf schon lange hingewiesen und insbesondere „the interlocking system of race, gender, and class“ adressiert habe, betont bell hooks in ihrer persönlich geprägten Sozioanalyse. Um gegen repressive Klassenhierarchien vorzugehen, plädiert sie schließlich, bedürfe es eines Denkens gegen den Strich und eines alltäglichen Widerstands gegen den „unnecessary consumerism“.


Jens Kastner ist Soziologe und Kunsthistoriker an der Akademie der bildenden Künste Wien


Literatur

Torsten Bewernitz: Nothing in Common? Differänzen in der Klasse. Münster 2015: edition assemblage.

Ben Davis: 9.5 Thesis on Art and Class. Chicago 2013: Haymarket Books. bell hooks: Where We Stand: Class Matters. London / New York 2000: Routledge.

Andreas Kemper / Heike Weinbach: Klassismus. Eine Einführung. Münster 2009: Unrast Verlag.

Hans-Günter Thien: Die verlorene Klasse. ArbeiterInnen in Deutschland. Münster 2010: Verlag Westfälisches Dampfboot. Guy Standing: Eine Charta des Prekariats. Von der ausgeschlossenen zur gestaltenden Klasse. Münster 2016: Unrast Verlag.