Bitte setzen Sie sich und machen es sich bequem!

Zum Glück nahm ich gezwungenermaßen an jenem Abend neben Simon Platz. Simon, der mir vom ersten Kennenlernen her nur als schnöseliger, unentwegt obergeschäftiger PR-Mitarbeiter einer österreichischen Partei in Erinnerung blieb. Als er mich auf mein künstlerisches Tun ansprach, reagierte ich wie immer bei Unsympathlern kurz angebunden mit „Körperpolitiken“. Zu meiner Überraschung reagierte mein schlanker Nebensitzer interessiert. Wir setzten die Unterhaltung fort und ich erfuhr von Simon ein Geheimnis, was die medizinische Fachsprache als „morbid adipös“ beschreibt. Simon, ansonsten auf den meisten Ebenen privilegiert, war also als Jugendlicher fett. Erst als er sich mehrmals in die Ohnmacht hungerte, so erfuhr ich im Laufe des Gesprächs, wurde aus ihm jemand, der plötzlich auf Parties eingeladen wurde und am gesellschaftlichen Leben teilnehmen durfte. Simon hat sich von seinem sozialen Stigma als archetypisch guten „Fatty“ lossagen können, seinen Tribut gezahlt und den Olymp der „Immerschlanken“ erklommen. Im Gegensatz zu den vielen „Bad Fatties“ wie mir, die sich als dick outen und wahlweise nicht früh genug sterben wie es Stacy Bias launig in ihren 12 Archetypes of Good Fatties skizziert.

Das Dicke wird als etwas der höheren Gesellschaft Unwürdiges gesehen. Wer aufsteigen oder oben bleiben will, muss makellos schlank sein oder so tun als ob. Dicksein ist noch nicht einmal mehr als Kind erlaubt: Biene Maja, Bob der Baumeister und Heidi, allen ist eines gleich, sie haben abgenommen. Nur Pumuckl, der alte Haudegen, hat sich aufgrund öffentlichen Drucks gegen das visuelle Body Shaping gewehrt. Wenn Statistiken im „harmlosesten“ Fall aussagen, dass schlanke Kinder im Durchschnitt bessere Noten schreiben und im schlechtesten Fall behaupten, dass dicke Menschen für schlanke Menschen widerwärtige Dickmacher sind, von denen man sich fern halten sollte, dann sehen wir nur die Spitzen diverser Eisberge, unter deren Oberflächen man ungern schauen möchte, würden sie doch Wahrheiten eröffnen und Falsifikationen aufzeigen, die die schlanke Hegemonie dringend befragen müsste.

Dabei suchen wir doch alle nur dasselbe, nämlich da, wo alles anfing: Ein Weihnachtsessen im Kreise der Familie, das sich nicht als jüngstes Gericht darstellt, um abzuklopfen, welches der Familienmitglieder gesellschaftlich anerkannter ist; sprich schöner und erfolgreicher sowie in einer ernstzunehmenden Liebesbeziehung, die tauglich für die gerahmte Bildergalerie auf der Kommode der (Patchwork)eltern ist.

Wenn ich zurückdenke an meine zweite Begegnung mit Simon in einem Wiener Gasthaus, dann bleibt mir nur eines negativ im Gedächtnis – nämlich der harte, hölzerne Sessel, dessen Lehnen sich seitlich in mein Fleisch bohrten und der mir zeitweise Teile meines Pos und meiner Schenkel unfreiwillig narkotisierte. Wir wissen alle, dass das Leben komplex ist und die Ursachen, egal welche, multifaktoriell bedingt sind, aber manchmal gestalten sich Lösungen im Kleinen simpel: Fragen Sie ihr Gegenüber das nächste Mal doch einfach mal, ob es bequem sitzt oder umgehen Sie eventuelle Peinlichkeiten, in dem Sie vorab schon einen bequemen, stabilen Sessel ohne Armlehnen bereitstellen.


Veronika Merklein ist Künstlerin und lebt in Wien.


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