Im Kern ist die Schrift eine Geschichtenerzählerin. Buchstabenformen vermitteln eine Botschaft. Und solche Botschaften treten vielleicht am deutlichsten in Form von gemeinschaftlich entworfenem Design für Proteste zutage. Viele derjenigen, die Schilder und Transparente für Märsche und Demonstrationen entwerfen, bezeichnen sich zwar nicht als Grafikdesigner*innen, aber genau das sind sie, wenn sie Buchstaben auf Plakate setzen. Jedes Schild ist eine Momentaufnahme einer umfassenderen Geschichte, eine Botschaft, die sowohl sehr persönlich ist als auch die Gedanken einer größeren Bewegung zum Ausdruck bringt. Sie entstehen aus Wut und Traurigkeit und bringen genau das zum Ausdruck, worum es beim besten Design geht: den Wandel anzustoßen.
Die Geschichte und die Entwicklung der Druck- und Schrifttechnologien haben die Herstellung von Protestmaterialien und die Verbreitung von Botschaften stark beeinflusst. Ab der Mitte des 20. Jahrhunderts verbreiteten sich Werkzeuge wie Siebdruckpressen stärker als je zuvor und boten eine perfekte Schnittstelle zwischen Kunst und Aktivismus. Auch die Designstile und die Methoden, mit denen die endgültigen Designs hergestellt werden, sind Teil einer historischen Entwicklung. Nehmen wir die feministischen Bewegungen der 1960er und 70er Jahre: Viele Bilder scheinen sich direkt auf die Kommunikationsformen der Bürgerrechtsbewegung zu beziehen, die in derselben Zeit stattfand.
Seit dem Aufkommen digitaler Technologien hat die Demokratisierung kreativer Software-Tools dazu geführt, dass sich ein stärker gemeinschaftsorientierter, nicht egozentrischer Ansatz durchgesetzt hat, bei dem Designer*innen zunehmend Arbeiten erstellen, die Open-Source oder frei herunterladbar sind. Eine der Stärken der Frauenmarsch-Bewegung ist zum Beispiel das Fehlen eines Markenzeichens oder einer bestimmten visuellen Identität, wie sie von den großen Agenturen definiert wird. Zu den mittlerweile ikonischen Bildern der Bewegung gehören Hayley Gilmores Plakat A woman‘s place is in the resistance mit fetten, roten Großbuchstaben und das Femme Fists-Symbol von Deva Pardue.
Auch wenn die meisten Protestmaterialien alles andere als von besonderem Wert sind – sie wurden in aller Eile zusammengestellt und sollten in der Regel nicht länger als eine Demonstration überdauern –, hat das Design Museum in London in seiner Ausstellung Hope to Nope: Graphics and Politics 2008–18 solche Stücke in den ungewöhnlichen Kontext eines Museums gerahmt, das sich ganz dem Design verschrieben hat. Es überrascht nicht, dass viele der Stars der Ausstellung auf Schriften ausgerichtet waren, wie etwa die Flagge des Künstlers Dread Scott zur Unterstützung der Black-Lives-Matter-Bewegung. Während die Ausstellung die weitreichenden Möglichkeiten von Typograph*innen und Designer*innen hervorhob, etwas zu bewirken, wurden auch ihre Grenzen aufgezeigt. Eine der Kuratorinnen der Ausstellung, Lucienne Roberts von GraphicDesign&, sagte 2018 gegenüber dem Magazin Eye on Design: „So viel Grafikdesign unterstützt den Kapitalismus im weitesten Sinne, und ich denke, das bringt viele von uns dazu, den Wert unserer Arbeit zu hinterfragen. Wenn wir Arbeiten machen, die sozialer sind, haben wir das Gefühl, etwas Sinnvolleres zu tun, und bis zu einem gewissen Grad ist das auch so.“ (Das ist ein interessanter Punkt, der durch das Plakat von Oddly Head, das ebenfalls in der Ausstellung zu sehen war, pointiert persifliert wird, auf dem zu lesen ist „Slogans in schönen Schrift-arten werden die Menschheit nicht retten“.)
In manchen Fällen können Schriftarten selbst eine Form von Aktivismus sein – ein Beispiel dafür ist die Arbeit von Vocal Type. Vocal Type wurde 2016 von Tré Seals und seinem gleichnamigen Studio in Maryland gegründet und entstand zunächst aus Frustration. Seals suchte online nach Inspiration für ein Identitätsprojekt und stellte fest, dass alles, was er sah, „gleich aussah“ – ein Symptom für die rassialisierte Homogenität der Branche. Bei einem Blick in die Statistik fand Seals heraus, dass nur 3 bis 3,5 Prozent aller praktizierenden Designer*innen in den USA Schwarz sind. Also machte er sich daran, eine Schriftplattform zu schaffen, die nicht nur von einem Schwarzen gegründet und kreativ geleitet wird, sondern auch Schriften verkauft, die inhärent politisch sind. Vocal Type hat sich zum Ziel gesetzt, das Design zu diversifizieren, indem es Schriften entwickelt, die ein Stück Geschichte einer bestimmten, unterrepräsentierten rassialisierten Gemeinschaft, Ethnie oder eines Geschlechts hervorhebt. Jede Veröffentlichung ist eine lebendige Geschichte, die durch die grundlegendsten Bausteine des Designs erzählt wird: die Buchstabenformen. Dazu gehören Martin, benannt nach Martin Luther King, und William, benannt nach W.E.B. Du Bois.
Dank der weit verbreiteten Verfügbarkeit digitaler Designtools ist es heute auch für Nichtdesigner*innen immer einfacher, auffällige Protestmaterialien zu erstellen. Aber handschriftliche Beschilderungen haben eine ganz andere Wirkung als „gutes“ Grafikdesign, das sich durch technische Raffinesse und ausgefeilte, professionelle Schriftarten auszeichnet. Nichts fängt die Leidenschaft und Spontaneität des Protests so gut ein wie handgemachte Schilder. Oft bedeutet die Dringlichkeit eines Protests, dass man einfach einen Stift in die Hand nehmen und anfangen muss zu schreiben, und die Typografie des Protests ist heute größtenteils fest in der Hand der Handschrift.
Es ist bemerkenswert, dass die Handschrift weiterhin einen so starken und prominenten Platz im Protest einnimmt, wenn man bedenkt, dass der heutige Aktivismus ebenso online wie auf der Straße stattfindet, mit Grafiken und typografischen Slogans, die sich als sozial teilbare (und erfreulich tugendhafte) Gifs, digitale Poster usw. verbreiten. Diese handgezeichneten Schilder sind zwar offiziell kein „Design“, gehören aber zu den einprägsamsten Ausdrucksformen von Wut und Hoffnung, die wir bei einem in der Zivilgesellschaft geführten Protest sehen können. Außerdem hinterlassen sie einen bleibenden Eindruck, wenn sie fotografiert werden, was wiederum dazu führt, dass die Proteste eher die Aufmerksamkeit der Presse erregen. Schließlich wirken die markanten, oft in Großbuchstaben geschriebenen Buchstaben, die von Hand auf alles Mögliche gedruckt oder geschrieben werden, was die Demonstrant*innen finden können – Karten, Papier, ihre eigenen Körper und Gesichter oder (zu Covid-Zeiten) Gesichtsmasken – so, als ob sie uns anschreien würden. Es herrscht ein Gefühl der Dringlichkeit: Die Form folgt der Funktion. Und das ist entscheidend für unglaublich kraftvolle Bilder.
Emily Gosling ist auf Kunst, Design und Kultur im Print- und Digitalbereich spezia-lisierte Freelance-Schreiberin und lebt in London.
Aus dem Englischen übersetzt von Jens Kastner.