Wir sind die Alter_n_ative

Alter(n) ist gesellschaftlich häufig negativ konnotiert. Es wird oft mit Verfall und Verlust assoziiert. Die IG Bildende Kunst arbeitet an der Frage, wie Alter in der Kunst neu zu besetzen und zu definieren ist. Welche blinden Flecken gilt es in den Fokus zu rücken? Und vor allem: Das Alter ist positiv in seinem ganzen Reichtum und Mehrwert künstlerisch zu beachten. Es gibt eine „Alternative“ zur Abwertung. Was verstehen wir also unter dem Begriff der „Alternative“?

„…wir haben eine falsche Vorstellung von den Dingen, weil uns das Werkzeug fehlt, das zu erschüttern, was sich in der Sprache und im Denken als allgemeine Meinung fixiert hat, als doxa, in deren Spurrille wir eingefahren bleiben.“ (Jullien 2020: 47) Der Sinologe Francois Jullien schlägt den Begriff eines zweiten Lebens vor, das dann beginnt, wenn man sich seinen eigenen Tod vor Augen führt, ohne ihm wie bisher einen Widerstand entgegenzusetzen. Ihm im Gegenteil fest ins Auge sieht, um im Präsens Präsenz zu leben. „Weil ich endlich weiß, dass mein Leben sich mir entzieht, nehme ich mich zurück, überprüfe meine Verpflichtungen, überdenke meine Investitionen, um weiter vorwärts gehen zu können. Dass ich endlich wage, mein Ende in Betracht zu ziehen – dass ich daran denke, daran zu denken –, bildet gerade die Schwelle zu diesem Anfang.“ (Jullien 2020: 33) Aber Alter richtet sich ja nicht nur auf das absehbare Ende hin aus, so wie sich Jugend vom Anfang bewusst wegbewegt. Es bietet eben auch die Möglichkeit von Wissens- und Kommunikationsvermittlung. Insbesondere sehen wir das auch in der Kunst.

In der künstlerischen Arbeit gilt es, ein Vertrauen zu entwickeln, dass alles, was es braucht, vorhanden ist und das Geschehen informiert – Zeit, Personalressourcen, Material. Es kommt darauf an, dieses Potential aufmerksam zu lesen und auch im Mangel oder im Hindernis, wenn zum Beispiel eine Genehmigung nicht erteilt wird, damit zu arbeiten – als Möglichkeitsraum, der wieder neue Fragen stellt. Der Umweg, der mich dazu bringt, die Kontrolle gegen den eigenen Willen zu verlieren, ermöglicht die Erfahrung zu lernen, sie freiwillig abzugeben. Das „Kontrolle-Verlieren“ wird zum „Geschehen-Lassen“ in aktiver Aufmerksamkeit. Es geht also nicht um die Zielgerade, den implizierten Tunnelblick, sondern vielmehr darum, eine Alternative zum herkömmlichen Denken des Alterns in der Kunst zu sehen, wie von Bini Adamczak so vorgeschlagen – nämlich das Altern als Wissensquell zu lesen: als Kraftquelle, Beziehungen neu zu gestalten. Eine Kraftquelle, die ein Dazwischen darstellt, das sich zuvor dem Blick entzogen hatte. Was kann dieses Dazwischen sein? Es ist vor allem ein Dazwischen des Zwischenmenschlichen. Ein generations- und lebensabschnittverbindendes Dazwischen, welches gegenseitig Ungedachtes auslotet, sich nicht durch „Evidenzen“ blockieren lässt, durch die wir, ohne es zu vermuten, Ressourcen ungenutzt lassen. Vielmehr erlaubt es dem Vitalen, sich zu entfalten.

Die von Adamczak beschriebenen Zwischenräume sind Handlungsräume, die sich nicht nur in der Vermittlung und dem sozialen transgenerationalen Austausch zueinander verhalten, sondern auch in der Unmöglichkeit der Handlungs- und Beziehungsvereinheitlichung sichtbar werden: Wer verhält sich wie und zu wem? Eigenperspektive und -kompetenz sind ständig neu zu orten und insbesondere im Altern auch als selbständige Begleitende des eigenen Lebens und Werks zu sehen.

Natürlich können wir die eigene Perspektive nicht verlassen, aber was hilft, ist Durchlässigkeit, mehr Fokus auf Verbindendes, ein Erweitern unseres Vorstellungsvermögens – eine lebendige Beweglichkeit, die aus einer Aufmerksamkeit im Moment entsteht. Eine Aufmerksamkeit, die François Jullien als Disponibilität bezeichnet (Jullien 2018:33). Eine „Offenständigkeit“, die einen Bereich des Dazwischen eröffnet und in einem Loslassen eine neue Aufnahmebereitschaft bringt. Das Potential darin: Jedes Verlieren ist zugleich ein Erhalten. Also was erhalten wir, wenn wir die Kontrolle verlieren?

Wie wirkt sich unser neues Verhältnis auf unser (westliches) Selbstverständnis aus? Innere und äußere Veränderungen. Jeder Dialog ist ein „gefährliches Unterfangen“, weil die Konfrontation mit einem anderen sie dazu zwingt, ihre Gedanken und ihr Verhalten zu ändern und ihre Identität in Frage zu stellen. Die erste Frage im Dialog lautet: Wer ist der andere? Und die zweite: Wer bin ich? Erlaube ich, dass sich meine Identität ändert? Und damit mein Verhalten? Der Kontrollverlust, den wir das ganze Leben über als stetige Begleitung haben – warum wird er im Alter so gestärkt und als negativ gelesen? Warum kann das Loslassen nicht als Mehrwert erkannt werden? „Loslassen“ heißt nicht „fallen lassen“, „aus der Hand geben“ heißt nicht „verlieren“ – sondern zulassen und vertrauen, vor allem in die eigene Intuition. Als sedimentierte Erinnerung wird sie zum Kompass auf der Suche danach, was in vielen Dingen eins ist.

Es gibt verschiedene Techniken, diesen Raum der Interdependenz zu öffnen, zu halten und zu pflegen – Kunst ist eine davon. Allen gemeinsam ist als Voraussetzung ein genaues Beobachten, Präsenz und wiederholendes Üben, das einem Gardening gleicht im Sinn von Kultivieren. Auch hier ist das Ergebnis offen und das Nicht-Festhalten eine schwierige Aufgabe, die sich immer neu stellt – in der jeweiligen Frage mit unbekanntem Ausgang. Ein Gardening, das auch die Autorschaft neu begreift – in einem eigentlichen Wortsinn von augere als fördern, veranlassen, vermehren, befruchten. In diesem öffnet sich der Raum erst in der Anerkennung, dass er nicht meiner Kontrolle unterliegt. Meine Arbeit als Autorin diesem Raum gegenüber ist, ihn zu ermöglichen, zu pflegen, zu betreuen und neue Fragen abzuleiten, um ihn zu erweitern. Lebendig ist diese Auseinandersetzung aber nur dort, wo das Wagnis so groß ist, dass es scheitern kann.

Die Anforderung des kultivierenden Wiederholens beschreibt Jullien als Reprise, als Wiederaufnahme, ein Freimachen von Konditionierungen im Wiederdurchqueren. Erst in dieser Verschiebung treffe ich als erfahren(d)es Subjekt meine eigenen Entschlüsse und gestalte sie – und mich – um. „Denn die Wiederaufnahme ist weder unterwürfig und passiv wie die Erinnerung noch unwissend und waghalsig wie die Erwartung. Sie ist weder festgefahren, belastet vom Bleigewicht der Vergangenheit, noch inkonsistent und flatterhaft, weil sie nach Belieben in die Zukunft projizierte.“ (Jullien 2018:138)

Diesen Zugang, der der künstlerischen Arbeit immanent ist, in den eigenen Alltag zu übertragen, im Wortsinn „überzusetzen“, ist ein komplizierter Prozess, vielleicht sogar die eigentliche Aufgabe eines „zweiten Lebens“. Allerdings ist im täglichen Wechsel der Rollen, Anforderungen und Räume, im Sich-Engagieren und Sich-Zurücknehmen, auch das Nicht-Wissen als Antwort gültig. In diesen Momenten ist das Loslassen als Zustimmung zum Nicht-Kontrollieren nicht weit vom Lösen, also vom „Zergehenlassen“, „Flüssigmachen“. Ein Lösen, das selbst neue Mischungen hervorbringt.

Was heißt es eigentlich, „native“ zu altern, ursprünglich und direkt, haben wir uns im Vorfeld unseres Ausstellungsprojektes alter_n_ative in der IG Bildende Kunst gefragt. Vielleicht heißt es – um einen weiteren Gedanken von Jullien aufzugreifen –, in und mit der Erfahrung der Lebenszeit das erste Mal eine tatsächliche Wahl zu haben – eine Alternative. Diese Alternative, die aus einer Ablagerung und Anhäufung ebendieser Erfahrung freigesetzt wird, zeichnet sich ab, wenn wir uns den eigenen Tod vor Augen führen, ihn offensiv betrachten, nicht als Idee, sondern als konkrete Setzung. Das ermöglicht erst, herauszutreten aus den eigenen Begrenzungen und zu ex-istieren. Alter – außerhalb dessen, was das Leben bestimmte und in Grenzen fasste, von denen ich nicht einmal wusste, dass ich ihnen unterworfen war. Hier öffnet sich ein Raum außerhalb einer der Marktlogik folgenden Abwertung des Alters. Ein Raum für Resonanz, einen Beziehungsmodus, eine Selbstwirksamkeit, die vielleicht das Gegenteil von Entfremdung bildet.

Sich selbst bewusst sein ohne den theoretischen Extremismus und Zwang der Jugend – das ergibt mehr Spielraum, mehr Umweg, mehr Zwanglosigkeit, um diesen Extremismus zu hintertreiben. So kann ein aktives Lassen, dessen Gebrauch es zu erlernen gilt, gesehen werden. Wie bildet sich das ab im Werk? Im Umgang mit der eigenen künstlerischen Arbeit? Was geschieht, wenn sich alternde Kunst nicht gesellschaftlich entfremdet, sondern aktiv als Teil des kulturellen Schaffens und als wichtiger und bereichernder Teil des künstlerischen Diskurses begriffen wird – ein Teil des kulturellen Seins, welches frei ist von der Ferngesteuertheit festgesetzter Vorstellungen.

Erfahrungen können neu besprochen werden und die Befreiung, die das Alter dem Werk und den Kunstschaffenden gibt als Mehrwert für alle gesehen werden. Nicht Milde, sondern Revolution der Perspektive, das bietet uns das Alter. 


Almut Rink, bildende Künstlerin, arbeitet zu Konzepten unseres Selbstverständnisses im Spannungsfeld von Individuum und Gruppe, Subjekt und Objekt. Momentan ist sie gemeinsam mit Carla Bobadilla Co-Vorsitzende der IG Bildende Kunst.

Ruby Sircar ist Artistic Researcherin, sie arbeitet zu Popkultur und Migration. Gemeinsam mit Almut Rink hat sie das Projekt alter_n_ative für die IG Bildende Kunst konzipiert. Seit 2022 ist sie dort auch Teil des Vorstandteams.


Literatur

Bini Adamczak, Beziehungsweise Revolution, 1917, 1968 und kommende. Berlin 2021 (Suhrkamp Verlag).

Francois Jullien, Ein zweites Leben. Wien 2020 (Passagen Forum).

Francois Jullien, Vom Sein zum Leben. Euro-chinesisches Lexikon des Denkens. Berlin 2018 (Mattes und Seitz Verlag).
Martha Nussbaum, Aging Thoughtfully: Conversations about Retirement, Romance, Wrinkles, and Regret. Oxford 2017 (UP).