Wer füttert die hungrige Krake Kunstbetrieb?

Dieser Text nimmt die Ausstellung zum Anlass, um einige Beobachtungen und Überlegungen zum Schwerpunktthema beizutragen und basiert auf einem Input, den ich im Rahmen eines Workshops geben durfte sowie auf meiner Tätigkeit der vergangenen zwei Jahre an der Akademie der bildenden Künste Wien, die sich unter anderem mit Inklusion und Exklusion im Kunstbetrieb auseinandersetzte. Ich diskutiere erst normative Konzeptionen des Alters und deren Einfluss auf künstlerische Arbeitsbedingungen und ungleiche Zugangsmöglichkeiten zum Kunstbetrieb, um dann über nonlineare Konzeptionen von Alter und künstlerischer Produktivität nachzudenken.

Die Normierung zeitlicher Abläufe künstlerischer Karrieren

Dominante Konzepte des Alters sind von gesellschaftlichen Normierungen strukturiert, denen unterstellt wird, auf natürlichen Gegebenheiten zu basieren. Meist sind diese Vorstellungen binär konzipiert: Menschen werden als alt oder jung, ihre Kleidung oder ihr Verhalten als altersgemäß oder auch nicht bezeichnet. Zudem sind sie naturalisierend gestaltet, indem Kindheit, Jugend, so genanntes Erwachsensein und Alter als naturgegebene Lebensphasen verstanden werden, in denen Körper eine Entwicklung durchleben, die als mehr oder weniger erfolgreich gelesen wird. Für Künstler:innen hat dies die Normierung zeitlicher Verläufe der so genannten künstlerischen Karriere zur Folge, die im Bereich der bildenden Kunst beispielweise in institutionelle Einzel- und Gruppenausstellungen, Festivalteilnahmen, Preise, Stipendien und Verkäufe gegliedert ist. Der Zugang zu diesen Ressourcen ist abhängig davon, in welcher Weise eine Person die mit dem jeweiligen Alter verbundenen Erwartungen erfüllt. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, künstlerische Arbeitswege und Karriereverläufe aus einer intersektionalen Perspektive zu betrachten. Die vorherrschenden Ansprüche an den zeitlichen Ablauf künstlerischer Karrieren zu erfüllen, braucht Ressourcen wie Zeit, Geld, körperliche Fitness, einen Pass, der Aufenthalt und Reisen ermöglicht, Kontakte im Kunstbereich und oft auch familiäre oder partnerschaftliche Unterstützung. Das Vorhandensein dieser Möglichkeiten ist nicht nur von Alter abhängig, sondern in gleicher Weise von race, class, gender, ability, sexueller Orientierung. Oftmals verbinden sich beispielsweise für Künstlerinnen sowie trans- und nonbinäre Personen alters- und geschlechterbezogene Normierungen und Diskriminierungen, die ihren Handlungsspielraum einschränken.

Intersektionale Perspektiven

Infolge des Engagements vieler Akteur:innen bekommen aktuell einige Künstlerinnen, die viel zu lange übersehen wurden, in Ausstellungen, Publikationen und am Kunstmarkt in Österreich und international verstärkte Aufmerksamkeit. Es wurden teilweise Altersgrenzen für Stipendien und Preise abgeschafft. Das Interesse gilt aber zu oft einzelnen ausgewählten Künstlerinnen und deren Vermarktung. Voraussetzung hierfür ist, dass die jeweilige Person ausreichend Arbeits- und Lagerraum hat(te), um gut erhaltene Werke herstellen und anbieten zu können, die sie unter Umständen parallel zu ihren Betreuungsverpflichtungen und der Erwerbstätigkeit produzieren musste. Nach wie vor verdienen Künstlerinnen und nonbinäre Personen jedoch deutlich weniger als Cis-Männer.1 Trans- und nonbinäre Personen werden erst in neueren Studien miterfasst und sind mit Normierungen in Bezug auf Gender und Alter konfrontiert, sie müssen für die Sichtbarkeit und Honorierung ihrer künstlerischen Tätigkeiten und mit normativen Geschlechterkonzeptionen kämpfen. Als nächsten Schritt braucht es strukturelle Veränderungen mit dem Ziel, nicht nur die Arbeitsbedingungen einiger, sondern vieler zu verbessern. Hierfür bietet die 2022 von der Arbeitsgruppe Fokus: Senior Artist durchgeführte Onlineumfrage eine wichtige Basis.²

Die ungleiche Zugänglichkeit des Kunstbetriebes

Die ungleiche Zugänglichkeit des Kunstbetriebes auf Basis von race, class, gender und ability wird trotz wichtiger Initiativen immer noch viel zu oft übersehen. Im Kulturbetrieb zu arbeiten, bedeutet permanenten Laufschritt mit Blick auf die angestrebte Präsenz, Honorierung oder (Leitungs)Position. Während des Runs wird übersehen, wer aus welchen Gründen nicht mitlaufen kann. Wenn für Künstler:innen hoher Druck vorhanden ist, bei bestimmten Shows mitzuwirken, während das Atelier 17 Grad hat und eine Einreichung fertiggestellt werden muss, fehlt scheinbar die Kraft zu fragen, ob die Location der jeweiligen Show barrierefrei ist und Stühle vorhanden sind. Auch wer nicht stundenlang stehen oder sich durch Massen drängen kann, bleibt dann daheim. Die Arbeiten jener Künstler:innen, die sich die unbezahlte Arbeit für Großveranstaltungen nicht leisten können oder möchten, fehlen im Programm. Um die Arbeits- und (Über)Lebensmöglichkeiten nicht nur für Senior Artists, sondern für viele zu verbessern, ist es nötig, gängige Vorstellungen von künstlerischer Produktivität infrage zu stellen und umzuarbeiten, wie dies beispielsweise Carolyn Lazard in ihren Arbeiten zu Crip Time (2018)3 praktiziert. Dieser Vorschlag ist in keiner Weise neu, ich erinnere hier beispielsweise an Isabel Loreys Reflexionen über die Virtuos:innen der Freiheit.4 In der Praxis der Arbeit im Kulturbetrieb zeigt sich aber nach wie vor die Schwierigkeit seiner Umsetzung – Fördergebende wollen Ergebnisse, Künstler:innen wollen produzieren – im Rahmen der Ökonomie der Aufmerksamkeit braucht es immer mehr, um im Run nicht nur voran-, sondern überhaupt mitzulaufen.

Seit 2022 wurden im Rahmen des Schwerpunkts Fokus: Senior Artist zahlreiche kulturpolitische Forderungen erarbeitet. Zentral ist die höhere Dotierung von Stipendien, Honoraren und Produktionskostenersatz, um diese Ressourcen für alle zugänglich zu machen, die von ihrer Arbeit leben müssen. Vorgeschlagen werden Förderungen nicht nur für Emerging und für Senior Artists, sondern auch die Unterstützung der Lagerung und Archivierung von Werken und die Schaffung von barrierefreien Veranstaltungs- und Arbeitsräumen.

Ausblick: Queer Temporality

Parallel zu diesen dringenden Maßnahmen schlage ich vor, sowohl Vorstellungen von künstlerischer Produktivität als auch Normierungen von Zeitlichkeit in Frage zu stellen und umzuarbeiten. Linn Sandberg schlägt mit Bezug auf Ansätze der Queer Theory vor, nicht nur die Binarität der Geschlechter, sondern auch den Gegensatz des erfolgreichen oder erfolglosen Alterns in Frage zu stellen, um Raum für Subversion und Veränderung zu schaffen.5 Mit dem Begriff der Queer Temporality nimmt sie Bezug auf Jack Halberstams Ansatz eines anderen Verständnisses von Zeit und Raum. Sie weist mit Referenz auf Judith Butler darauf hin, dass Geschlechterkonzeptionen und Konzepte des Alterns performativen Charakter haben können. Das Scheitern an binären Normen ist Teil dieser Konzepte und ermöglicht neue Zugänge. Dies führt sie zu einem fluiden Verständnis der Zeitlichkeit des Alterns, das sie als Alternative zu neoliberalen dichotomen sowie statischen Zugängen zu Alter vorschlägt. Alter und künstlerische Produktivität nonlinear und fluide zu denken, kann das Laufen und Liegen, das Innehalten, Springen und Scheitern einschließen und Handlungsspielräume eröffnen. 


Romana Hagyo arbeitet mit Zugängen künstlerischer Forschung zu Visueller Kultur, Raum- und Geschlechterordnungen, seit 2014 in gemeinsamer künstlerischer Autorinnenschaft mit Silke Maier-Gamauf. Sie war von 2022 bis 2024 Gastprofessorin für Gender und Space an der Akademie der Bildenden Künste Wien.


1 Vgl.: Gender Report des BMKÖS 2017–2021, www.bmkoes.gv.at/kunst-und-kultur/schwerpunkte/fairness-fair-pay/gender-report.html (1. 10. 2024).
2 Vgl. Jannik Franzen: Anerkennung „schlicht durch ihre Arbeit“. In: Bildpunkt #62 senior artist, Herbst 2022: 14, 15.
3 Vgl.: https://www.frieze.com/article/carolyn-lazard-reframes-readymade. Ich nenne Carolyn Lazard hier exemplarisch für die vielen wichtigen Ansätze zu Resilienz, Crip Time, Sorgearbeit und dem Ruhen, die ich aufgrund der gebotenen Kürze hier nicht besprechen kann.
4 Vgl. Isabel Lorey: VirtuosInnen der Freiheit. Zur Implosion von politischer Virtuosität und produktiver Arbeit. In: Grundrisse. Nr. 23 / 2007, S. 4–10.
5 Vgl.: Linn Sandberg: The Old, the Ugly and the Queer: thinking old age in relation to queer theory. In: Graduate Journal of Social Science, Vol. 5 Issue 2 / 2008: 133f.