Warum die Frage der Klassenzugehörigkeit in Bildungsinstitutionen unbedingt wieder gestellt werden muss!

Über Klassenfragen zu sprechen ist eine Praxis, die heute im Vergleich zu anderen Differenzkategorien im wissenschaftlichen, aber vor allem im künstlerischen Bereich kaum mehr vorkommt. Bildungsinstitutionen determinieren durch Normierungen einerseits die Möglichkeit, dass klassenspezifische Artikulationen hörbar werden, oder sie vereinnahmen diese, sobald sie auf dem Wege der Kunst zum Ausdruck gebracht werden. Es geht hier nicht um die Frage von künstlerischen Artikulationen, die als Teil der neoliberalen Logik im künstlerischem Feld gefördert und anerkannt sind, sondern vielmehr um die Frage der Strukturen, die etwas artikulierbar und damit potenziell auch hörbar werden lassen. Mich interessiert vielmehr, inwieweit klassenspezifische Artikulationen an einem Ort wie einer Kunsthochschule auf einer strukturellen Ebene überhaupt eine Resonanz erfahren und es so schaffen können, die Reproduktion von Privilegierung zu durchbrechen. [1]

An der Akademie der bildenden Künste in Wien werden Diskurse über Differenzierungspraxen kritisch hinterfragt. Die Studierenden sollen in die Lage versetzt werden, die Frage der Differenzierung auf theoretische und praktische Kontexte zu beziehen und sich dazu ins Verhältnis zu setzen. Es geht darum, eine Sprache zu finden, die es ermöglicht, Verhältnisse der Un-/Gleichheit – etwa zwischen den normierenden Ansprüchen an dieser Bildungsinstitution und einer subjektiven Differenzerfahrung – zum Ausdruck zu bringen. [2] Zwar kommen strukturelle Ausschlüsse immer wieder zur Sprache kommen, aber gleichzeitig gibt es kaum Raum für Aushandlungsprozesse im Umgang mit Klassenverhältnissen in den Institutionen. Und damit entsteht eine „Leerstelle“, die es an der Akademie wie auch in anderen Bildungsinstitutionen unmöglich macht, sich abseits einer Normativität zu verorten.

Das Aufnahmeverfahren an Kunstinstitutionen ist ein Beispiel dafür: Um Zugang zu einer Kunsthochschule zu haben, braucht es entweder den Rückgriff auf bereits vorhandene Netzwerke oder das Wissen der „Elite“ muss bereits angeeignet worden sein. Bei der Einschreibung zum Aufnahmeverfahren wird nach dem Bildungshintergrund der Eltern gefragt, wobei es der Einzelnen überlassen bleibt, ob sie die Frage beantworten will. Werden aber nach dem Prinzip des „sozial erwünschten Antwortverhaltens“ keine Angaben dazu gemacht, dann kommt die Frage nach der Positionierung dieser Institution auf, die ein Wissen um das sozial erwünschte Verhalten voraussetzt. Die angehenden Studierenden wissen, dass die Artikulation von Nicht-Privilegierung unterdrückt werden muss, um gleiche Chancen zu haben. [3]

Ein weiteres Beispiel ist das Verhältnis von Arbeit und den spezifischen Bedingungen, unter denen diese geleistet werden kann. Künstlerische Produktion findet vorwiegend unter prekären Bedingungen statt. Aber wer kann es sich schon leisten, die Prekarität der Bedingungen soweit auszublenden – und es geht mir hier nicht nur um Fragen der existenziellen und materiellen Absicherung, sondern auch um die Freiheit, diese Frage gar nicht erst stellen zu müssen –, dass er oder sie sich dieser Art von Prekarisierung überhaupt stellen kann?

Im Rahmen meiner Tätigkeit im Projekt Die Akademie geht in die Schule an der Akademie der bildenden Künste kam an einer polytechnischen Schule die Frage nach dem Verdienst von Künstler_innen auf. Diese Frage verweist auf die Reproduktion einer bestimmten Vorstellung von Arbeit: Die Vorstellung von Arbeit als einer Selbstverwirklichung, der ein Begehren zugrunde liegt, wird in dieser Schulform nicht gefördert; vielmehr wird ein Verständnis von Arbeit reproduziert, das diese als Notwendigkeit zur existenziellen Absicherung postuliert. Die Frage zeigt zudem deutlich, dass keine Vorstellung davon gibt, wie das Kunstfeld funktioniert. Damit ein Projekt wie Die Akademie geht in die Schule tatsächlich nachhaltig sein kann – und das ist der Zweck dieses Projekts –, reicht es nicht, Projekte an nicht-privilegierten Orten umzusetzen. Es braucht auch strukturelle Maßnahmen, die Wissen in die jeweiligen Institutionen tragen und gleichzeitig strukturelle Maßnahmen vorantreiben, damit den oben beschriebenen Reproduktionsprozessen entgegengewirkt werden kann.

Auch die Produktion dieses Textes unterliegt marginalisierten materiellen und existenziellen Bedingungen: Bildungswissenschaftlerin in unterbezahlter Lohnarbeit, Sorgeverpflichtungen gegenüber einem Pflegekind, Alleinerzieherin in einem nicht-heteronormativem Bezugspersonenkontext, Diskriminierung und Rassismuserfahrungen und – nicht zu vergessen – Arbeiterkind einer hilfsarbeitenden Mutter ohne Schulbildung und eines hilfsarbeitenden Vaters mit vierjähriger Schulbildung. Diese Auf – zählung von Marginalisierungen soll nicht Betroffenheit oder Scham auslösen, sondern ist vielmehr die Artikulation der Komplexität von Differenzerfahrungen in einem privilegierten Raum.


Günay Özayli ist Bildungswissenschaftlerin, Doktorandin und Mitarbeiterin im Projekt Die Akademie geht an die Schule an der Akademie der bildenden Künste Wien.


[1] Rothmüller/Saner/Sonderegger/Vögele beschreiben die Vorstellung der „idealen“ Studierenden als „weißer, bildungsbürgerlicher Oberschicht“ zugehörig, und die damit einhergehende Reproduktion von sozialer Ungleichheit in Kunsthochschulen, vgl. Barbara Rothmüller / Philippe Saner / Ruth Sonderegger / Sophie Vögele: Kunst. Kritik. Bildungsgerechtigkeit. Überlegungen zum Feld der Kunstausbildung, in: Andrea Lange-Vester und Tobias Sander (Hg_innen.), Soziale Ungleichheiten, Milieus und Habitus im Hochschulstudium, Weinheim und Basel 2016: Beltz Juventa, S. 89–10.

[2] Dieser Prozess wird nicht nur erst durch das individuelle Engagement einzelner Studierender oder Gruppen möglich. Er wird ausgelöst durch die Differenzerfahrungen, die einerseits darauf zurückgeführt werden können, dass einerseits die Institution das marginale bzw. minoritäre Wissen permanent in Frage stellt, und andererseits neben den Anforderungen des Studiums auch strukturelle Kämpfe geführt werden müssen, um auf nicht normierende Weise Anerkennung zu bekommen.

[3] Nach meinem Abschluss als Bildungswissenschaftlerin an der Universität Wien habe ich an einer Absolvent_innenbefragung teilgenommen, in der hinsichtlich des Bildungsgrads der Eltern die Auflistung lediglich von Pflichtschulabschluss bis tertiärer Bildungsabschluss ging. Die Möglichkeit, dass jemand über keinen Pflichtschulabschluss verfügt, wurde nicht berücksichtigt.