Bildpunkt: Vanessa, an der Uni Wien hältst Du eine Vorlesung zum Thema „Grundzüge des österreichischen und internationalen Geld- und Finanzwesens“. Kannst Du uns erklären, wie die zunehmende Finanzialisierung aller Lebensbereiche mit der Wertsteigerung von Kulturgütern zusammenhängt?
Vanessa Redak: Im Grunde genommen halte ich den Begriff „Kommodifizierung“ für treffender als den der „Finanzialisierung“. Ich stehe dem Begriff Finanzialisierung nämlich sehr kritisch gegenüber, weil er die Tendenz hat, für die sozialen und ökonomischen Probleme der Zeit zu sehr die Finanzmärkte verantwortlich zu machen, während der Rest der Wirtschaft als „gut“ angesehen wird. Seit einigen Jahrzehnten beobachten wir die Kommodifizierung, also die „In-Wert-Setzung“ bzw. „Zur-Ware-Machung“ immer neuer Bereiche des Lebens, sei es bei der Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen, die im Zuge von Privatisierungen einer Waren- und Profitlogik untergeordnet werden, bis hin zur Inwertsetzung und Verwertung all unserer privaten Informationen im Zuge der Digitalisierung. Das ist sicher die größere und grundlegendere Tendenz. Die Finanzialisierung betrifft dann jenen Teil der In-Wert-gesetzten Güter, die sich auch auf Finanzmärkten handeln und verwerten lassen. Dazu zählen auch Kulturgüter im weitesten Sinne. Aufgrund der stark gestiegenen Konzentration von Vermögen in den letzten Jahrzehnten sucht eine immer größer werdende Masse an Vermögenden nach attraktiven Anlageobjekten, dazu zählen neben Aktien, Immobilien und seltenen Erden eben auch Kulturgüter. Wenn sich das Interesse der Vermögenden auf Kulturgüter richtet, steigen die Preise für Kulturgüter. Böse könnte man daher sagen, dass die zunehmende Reichtumskonzentration und die ungleiche Verteilung von Vermögen Künstler:innen zugute kommt. Diedrich Diederichsen hat dies in Eigenblutdoping bereits 2008 festgestellt. Das Interessante dabei ist, dass das Anlageverhalten bzw. die Suche nach geeigneten Anlagen jedoch erratisch sind und nicht bestimmten zugrundeliegenden ökonomischen Werten entsprechen. Nach jahrelanger Beobachtung der Finanzmärkte kann ich sagen, dass das Anlagevermögen mal dahin, mal dorthin strömt und stark von Gerüchten und Herdenverhalten geprägt ist und nicht von fundamentalen ökonomischen Fakten getrieben wird.
Bildpunkt: Ina, Du beschäftigst Dich auf vielfältige Arten und Weisen mit Bewertungsprozessen im Kunstsystem. In Deiner Installation Greif zur Feder geht es um sogenannte Arbeiterschriftsteller:innenliteratur. Würdest Du sagen, dass es im Kontext dieser Bewegung gelungen ist, herrschenden Wertschöpfungsmethoden etwas entgegenzusetzen?
Ina Wudtke: In der Bewegung schreibender Arbeiter*innen ging es erstmal darum, die Arbeiter*innen dazu zu ermutigen über ihre Arbeitsverhältnisse zu schreiben und diese zu teilen. Gegenüber der klassischen Literatur, die sich in einer bürgerlichen Welt situierte und diese darstellte, sollte in der Weimarer Republik und später in der DDR eine Literatur der Arbeitswelt entstehen, die möglichst auch von Arbeiter*innen geschrieben sein sollte oder von Autor*innen, die durch Fabrikeinsätze oder ähnliches die Welt der Arbeit wirklich kannten. Es war eine emanzipatorische Bewegung, die heute ziemlich in Vergessenheit geraten ist, obwohl wir gerade erleben, wie wichtig es ist sich zu fragen „wer spricht“, wenn gesprochen wird. Was heute aus einer postkolonialen Perspektive thematisiert wird, wurde in der DDR aus einer sozialistischen Perspektive gedacht und auch umgesetzt – gar nicht mal so schlecht. In beiden Perspektiven geht es um die Bekämpfung von Hegemonien und damit auch um politisch beabsichtige Verschiebungen innerhalb der herrschenden Wertsysteme.
Bildpunkt: Die Pandemie hat vielerorts Debatten um die Notwendigkeit von Kunst und Kultur ausgelöst. In Kapstadt etwa gab es noch während des Lockdown eine inoffizielle Partyreihe, die sich essential services nannte. Welche Lehren können wir in Bezug auf eine gesamtgesellschaftliche Verankerung der Wertschätzung von Kunst und Kultur aus der Pandemie ziehen?
I.W.: Die Pandemie war für das Theater und die Clubwelt einfach viel schwieriger zu bewältigen als für die bildende Künste. Viele Schauspieler*innen, Tänzer*innen, DJs und Musiker*innen haben wegen des Lockdown überhaupt nicht arbeiten können. Mir ging es jedoch zu weit, als im April 2021 fünfzig Schauspieler*innen mit der Kampagne #AllesDichtmachen gegen die Coronamaßnahmen der deutschen (und österreichischen ) Regierung protestierten, als ob die Politiker*innen die (bzw. ihre) Kunst nicht wertschätzen würden. Am Ende fehlt es dann doch eher an einer Wertschätzung der Politik, die in Berlin übrigens sehr viel zur Unterstützung von (bildenden) Künstler*innen in der Pandemie getan hat. Noch nie gab es in Berlin so viele Kunststipendien wie während der Pandemie …
V.R.: Es war offensichtlich, dass Kunst und Kultur in der Pandemie abgewertet und bei der Frage, was im Lockdown leistbar ist, zurückgereiht wurden. Selbstverständlich war die Abwehr von Gesundheitsrisiken politisch prioritär. Als es aber dann darum ging, für welche Hilfsmaßnahmen der Staat wieviel ausgeben will, waren der Kunst- und Kulturbetrieb anfänglich nachranging, und das spiegelt den Stellenwert der Kunst beim handelnden Regierungspersonal wider. Der Stellenwert von Unternehmen war gleichzeitig sehr hoch, vermutlich zu hoch, da es mittlerweile Indizien für eine „Über-Förderung“ dieses Bereichs gibt. Für dieses Rangfolge-Denken beim Gewähren von Unterstützungsmaßnahmen ursächlich ist jedoch der finanzpolitische Rahmen, den sich die EU seit Jahren gibt und der daher zentral in den Köpfen der Regierenden verankert ist: die Austerität, die Haushaltsdisziplin. Nicht nur die Agenden der Kunst, sondern auch viele andere Agenden und Anliegen werden ständig von der Frage begleitet: „Können wir uns das leisten?“ Die Antwort für die entwickelten Industrieländer ist schlicht und ergreifend: ja. Das ist auch eine der Hauptthesen des Wirtschaftshistorikers Adam Tooze in seinem neuen Buch Die Welt im Lockdown, nämlich, dass sich die Industrienationen einen Lockdown leisten können und wir daher nicht ständig Anliegen gegeneinander aus-arbitrieren müssen. Das Wort Arbitrieren, sehr beliebt im Finanzmarktjargon, bedeutete früher übrigens „schätzen“, womit wir wieder bei eurer Frage angelangt wären.
Bildpunkt: Einerseits bestimmen ökonomische Erfolgskriterien immer stärker auch das Geschehen im künstlerischen Feld. Andererseits wäre es absurd zu behaupten, die teuerste künstlerische Arbeit sei auch die beste oder das Museum, das die meisten Eintrittskarten verkauft, sei das bedeutsamste. Wie generiert sich symbolisches Kapital im Kunstfeld heute?
V.R.: Ich bin keine Expertin für den Kunstmarkt, aber meiner Wahrnehmung nach wird die Bewertung von künstlerischen Arbeiten stark von Diskursen getrieben. Dies trifft im Übrigen auf die meisten Waren zu. Mit dieser Aussage könnte man streng genommen die Wissenschaft der Ökonomie ad acta legen, die sich jahrhundertelang über alle politischen Strömungen hinweg die Frage gestellt hat, wie der Wert von Waren entsteht bzw. – eher Marx folgend – warum ein Gegenstand überhaupt einen Wert hat. Und sich stattdessen der Psychologie und Soziologie widmen. Das diskursive Feld, auf dem der Wert von Kunst und Kunstwerken bestimmt ist, ist natürlich von Macht und Interessen geprägt. Diese zu entziffern, ist sicher wesentlich für einen kritischen Kunstdiskurs und nicht die Frage, ob der Wert eines Kunstwerks gerechtfertigt ist.
I.W.: Es wäre jetzt nicht möglich zu bestimmen, über wieviel „symbolisches Kapital“ jede*r einzelne*r Künstler*in verfügt. Alle derartigen Rankings sind Fiktionen, die selber bewirken, was sie angeblich nur beschreiben. Auf Platz 1 steht nicht „die wichtigste Künstlerin“, sondern diese Künstlerin wird erst dadurch „die wichtigste Künstlerin“, dass ein Magazin sie auf Platz 1 stellt. Wenn von jemandem behauptet wird, sie*er sei ein*e wichtige*r Künstler*in, ist es für die hypothetische Berechnung der daraus folgenden Steigerung des symbolisches Kapitals entscheidender, wer spricht, als wie gut diese Behauptung argumentiert wird. Am besten spricht eine im Kunstfeld geschätzte Persönlichkeit. Symbolisches Kapital lässt sich darüber hinaus am besten durch die Nähe zum symbolischen Kapital anderer (wichtiger) Akteur*innen generieren. Und das ist eine ziemlich deprimierende Erkenntnis. Wer alles noch dabei sein wird, ist wichtiger geworden als die Frage worum es geht.
Bildpunkt: Unter Kunststudierenden in Wien war (ist?) es ein gängiger „Scherz“, sich auf die Arbeitslosigkeit zu freuen, weil mit dieser die Berechtigung zum Kulturpass einhergeht. Was tun mit der unbedingt aufzustockenden finanziellen Entlohnung von Kunst- und Kulturschaffenden und der gewünschten Zugänglichkeit für alle?
I.W.: Aus meiner Sicht kann man Künstler*innen am besten mit Recherche- (bzw. Zeit-)stipendien unterstützen. Wir brauchen bezahlte Zeit zum Recherchieren (oder zum Erarbeiten bestimmter Techniken und Verfahrensweisen), auch wenn wir nicht mehr „studieren“ und keinen PhD machen. Diese Stipendien sollten ergebnisoffen sein. Und es sollte so viele davon geben, dass mindestens ein Viertel der Bewerber*innen auch ein Stipendium bekommen können. Des Weiteren müsste der Eintritt zu Museen und Ausstellungen, Kinos, Theatern und Konzerthäuser für professionelle Künstler*innen frei sein, damit sie keinen Kulturpass brauchen.
V.R.: Die Besserstellung von Kunst- und Kulturschaffenden sowie von allen prekär Lebenden ist dringend notwendig.
Vanessa Redak ist Finanzmarktanalystin und unterrichtet Geld- und Finanzmarktlehre an der Universität Wien.
Ina Wudtke hinterfragt als Künstlerin in ihrer recherchebasierten Arbeit hegemoniale politisch-gesellschaftliche Diskurse und stärkt Gegendiskurse zu Themenfeldern wie Gender, Arbeit, Stadt und Kolonialismus. Sie lebt in Berlin.
Das Gespräch wurde Anfang November 2021 von Sophie Schasiepen und Jens Kastner per E-Mail geführt.