„(A)nlässlich einer Diskontinuität, in der wir nicht mehr weiterwissen, unfähig sind zu begreifen, was vor sich geht und Un-Sinn begegnen“, schreibt Naoki Sakai, „können wir nicht einmal beginnen zu vergleichen. Es ist jedoch das Ereignis der Diskontinuität, das nach Übersetzung verlangt. (…) Einmal imaginiert, ist Übersetzung nicht länger eine Bewegung in Potenzialität. Ihr Bild oder ihre Repräsentation beinhaltet immer zwei Figuren, die notwendigerweise von einer räumlichen Trennung im Sinne einer Grenze begleitet werden. (…) Übersetzung (ist) nicht nur eine Grenzüberschreitung, sondern auch und in erster Linie ein Akt des Zeichnens der Grenze, der Grenzziehung (…).[1]
Dieser Befund gilt für jede Form der Übersetzung, beginnend mit der sprachlichen Übersetzung: Aus meiner Unfähigkeit zu begreifen, schließe ich, dass der/die Andere eine andere Sprache spricht, dass mir also nicht nur einige Begriffe unverständlich sind, sondern ich hier einem geschlossenen, fremden System gegenüberstehe. Aus der Unmöglichkeit ein Sprachsystem vollständig in ein anderes zu übertragen, haben sich Überlegungen zur Notwendigkeit (und Unmöglichkeit) der Übersetzung zwischen Kulturen entwickelt; hierbei wird das System der Sprache in ein noch größeres (und diffuseres) System einer fremden Kultur eingebettet.
Übersetzung findet nicht einmalig, sondern in einem kontinuierlichen Prozess unter der Vorbedingung ungleicher Machtverhältnisse statt. Etwa so: Aus der Perspektive nationaler Kultur werden Elemente, die dieser Kultur nicht angehören, als übersetzungsbedürftig definiert. Diese Übersetzungsnot wendigkeit wird ebenso hegemonial festgelegt wie Form und Inhalt der notwendigen Übersetzung – etwa so, dass das „kulturell Fremde“ ausgeschlossen zu bleiben hat; auch dies ist eine Form der Übersetzung dessen, was unverständlich und bedrohlich erscheint. Oder aber in der Forderung nach interkulturellem Dialog, der schon im Begriff festlegt, welche Art der Übersetzung hier stattzufinden hat, nämlich die zwischen Kulturen.
Es ist müßig, Grenzziehungen im Allgemeinen wie auch ihre hierarchische Funktion zu beklagen – beides gehört unverzichtbar zur Strukturierung von Bewusstsein und Gesellschaft. Es ist aber nötig, dem Begriff der (kulturellen) Übersetzung seine scheinbare politische Unschuld zu nehmen. Was einerseits bedeutet, das politische Kalkül der Behauptung bestimmter Übersetzungsnotwendigkeiten zu entlarven. Und andererseits, eigene Begriffe und Praktiken der Übersetzung an politischen Zielsetzungen (und nicht behaupteten quasi-natürlichen) Bedingungen auszurichten.
In der gegenwärtigen Situation von nationaler Abschottung und Integrationsforderungen im Dienste eines global agierenden neoliberalen Kapitalismus bedeutet das m. E. in erster Linie, angeblich kulturelle Unterschiede bewusst und radikal zu ignorieren. Hier geht es nicht um mehr oder weniger plausible empirische Nachweise der Ähnlichkeit von Kulturen, sondern um die ungesicherte (und hegemonial massiv bestrittene) politische Behauptung, dass kulturelle Unterschiede nicht wichtiger oder sogar weniger wichtig sind als andere Unterschiede. Wobei hinzuzufügen ist, dass diese Behauptung nicht weniger ungesichert ist als die gegenteilige, dass sich gesellschaftliche Konflikte kulturell erklären lassen.
Im Kontext politischer Bewegungen lässt sich diese Forderung nach spezifischer Ignoranz durch die Fokussierung auf solidarisches Handeln in Hinblick auf gemeinsame politische Ziele erfüllen. Dies schließt eine Perspektive auf Differenzen ein, die diejenigen Unterschiede ins Visier nimmt, die durch das politökonomische System verursacht werden und politisch bekämpft werden können und sollen, etwa unterschiedliche Rechte in Bezug auf Aufenthalt und Arbeitsmarkt.
Im Kontext künstlerischer Produktion lassen sich angebliche Übersetzungsnotwendigkeiten spielerisch in Frage stellen. Dies geschieht etwa im Versatorium, einem Projekt unter der Leitung von Peter Waterhouse. Unter anderem wurde hier eine vielsprachige Übersetzung der Schutzbefohlenen von Elfriede Jelinek erstellt; der Titel der Performance war eine lautmalerische Übersetzung des Titels ins Englische, Die, should sea be fallen in. Das Stück stellt die Notwendigkeit allgemeiner Verständlichkeit von Sprache in Frage und verdeutlicht zugleich die Bedrohlichkeit einer unverständlichen hegemonialen Sprache, in der Urteile über das eigene Leben gesprochen werden. Was dies insgesamt bedeutet, ist eine Abkehr von defensiven Strategien gegenüber Fundamentalismen, die diese in ihrer Abwehr immer wieder verstärken, zugunsten der offensiven, offenen und experimentellen Suche nach politisch relevanten multiplen Differenzen und multiplen Äquivalenzen, die als Grundlage von Solidarität dienen können. Was uns verbindet und was uns trennt, können und müssen wir gemeinsam in politischer Arbeit und künstlerischem Experiment herausfinden – nicht allgemein behauptete Übersetzungsnotwendigkeiten, sondern konkrete Übersetzungsversuche sind gefragt.
Monika Mokre ist Politikwissenschaftlerin und politische Aktivistin in Wien mit den Schwerpunkten Asyl, Migration und Kulturpolitik. Von ihr erschien zuletzt Solidarität als Übersetzung. Überlegungen zum Refugee Protest Camp Vienna. Wien/ Linz/ Berlin/ London/ Zürich 2015 (transversal texts).
[1] Naoki Sarkai, Mikrophysik des Vergleichs. Für eine Dislozierung des Westens, in: transversal texts, 06/ 2013, http://transversal.at/transversal/0613/sakai1/de