Trübsal macht stark

Enzo Traversos "Linke Melancholie", verlorene Zukünfte und hoffungsvolle Vergangenheiten Felix

Es dürfte ein trauriger Allgemeinplatz unter europäischen, überhaupt westlichen Linken sein, dass ihre eigene politische Strömung in all ihren Verästelungen heute in historischem Ausmaß schwach ist, ja dass emanzipatorische Bewegungen kaum noch Stoßkraft besitzen, gesellschaftliche Verhältnisse zu verändern. Manche diagnostizieren dabei einen Verlust der Zukunft, wie etwa der 2017 an seiner depressiven Erkrankung verstorbene britische Kulturwissenschaftler Mark Fisher, der genauer gesagt von einem „allmählichen Aufkündigen der Zukunft“ sprach, das sich in der Popkultur des heutigen scheinbar ausweglosen Kapitalismus manifestiere. Nach dem „Ende der Geschichte“ sei die Gesellschaft in einer unerträglich dauerhaften und ziellosen Gegenwart gefangen. Und in der Tat: Angesichts schier übermächtiger neoliberaler Verhältnisse, des Klimawandels und inzwischen einer nicht enden wollenden Pandemie – muss nicht jede linke Hoffnung und jede emanzipatorische Regung naiv und sinnlos erscheinen? Die Figur des „communist doomer“ aus den linken Nischen der Internet-Meme-Sphäre, die in kommunistischer Sehnsucht einem unausweichlichen Weltuntergang (engl. „doom“) entgegensieht, ist beredtes Beispiel dieser resignativen Mischung aus Hoffnungslosigkeit und Befreiungswunsch, die sich zu einem traurigen Gespenst von Utopie vereinen, das an sich selbst nicht glaubt.

Schwer zu sagen, ob dieser depressive Gemütszustand die Schwäche der Linken bedingt oder aus ihr folgt. Vermutlich beides wechselseitig. Woher im Trübsal also Kraft schöpfen, wenn nicht aufgegeben werden soll? Geht es nach Enzo Traverso, kann aus ebendieser Melancholie die Stärke erwachsen. Der marxistische Historiker hat diesem emotionalen Zustand von Trauer und Resignation daher ein ganzes Buch gewidmet, dass 2019 auf Deutsch unter dem Titel Linke Melancholie. Über die Stärke einer verborgenen Tradition im Unrast Verlag erschienen ist. Traverso möchte die „melancholische Dimension“ der linken Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts erforschen. Es handele sich nämlich dabei um eine verborgene Tradition, die es freizulegen gelte. Das ist für das ehemalige Mitglied der Ligue communiste révolutionnaire, einer trotzkistischen Partei in Frankreich, nicht einfach eine historiografische, sondern eine politische Angelegenheit.

Vergangenheit für die Zukunft

Wie Linke sich auf das Gestern beziehen, habe sich in den vergangenen Jahrzehnten fundamental verändert, so Traverso. Im 19. und 20. Jahrhundert habe im linken Denken eine Dialektik zwischen Vergangenheit und Zukunft bestanden. Demnach sei für emanzipatorische Bewegungen das Vergangene in die Erinnerung einzuschreiben gewesen, um es in die Zukunft zu projizieren. Das soll heißen, bisherige Erfahrungen, gerade Niederlagen, boten Linken die Kraft, positive Erwartungen an die Zukunft zu stellen. Zugleich halfen die Kämpfe der jeweiligen Gegenwart, die Trauer über vergangene Niederlagen zu verarbeiten. Mit dem Umbruch von 1989/90 sei diese Dialektik zerstört worden. Hier treffen sich Fishers und Traversos Diagnosen, ohne sich explizit aufeinander zu beziehen. Denn Letzterer charakterisiert die Epoche, die dann folgte, als „präsentisch“, als eine „ausgedehnte Gegenwart“, die keine Zukunft, keine echte Utopie mehr kenne. Offizielle Erinnerungsdiskurse würden nur noch Trauer um die Opfer von Gewalt und Genozid kennen, keinerlei Erinnerung an revolutionäre Erfahrungen. Der vormals verheißungsvolle Begriff des Kommunismus sei auf seine totalitäre Dimension reduziert und stehe nur noch für Entfremdung und Unterdrückung. Obwohl seit der Französischen Revolution große Umwälzungen stets Utopien und Hoffnungen erzeugt hätten, fehlten diese den Umbrüchen von 1989/90 und der Folgezeit. Die postsozialistischen Gesellschaften befassten sich nur noch mit der nationalen Vergangenheit, und auch den schwungvollen arabischen Revolutionen seit 2011 sei es nicht gelungen, Neues anstelle des Bisherigen zu setzen.

Der Linken sei durch 1989 die Vergangenheit und damit die Zukunft verlorengegangen, so Traverso auch hier ähnlich wie Fisher, denn der Zusammenbruch des Realsozialismus habe einen „Berg an Ruinen“ hinterlassen, den aufzuräumen kaum möglich war. In der Trauer um diesen Verlust sieht der Autor Melancholie, die er nicht etwa empirisch konstatiert, sondern regelrecht beschwört: „Es ist die Melancholie einer Linken, die […] sich nicht der Bilanz der akkumulierten Niederlagen entzieht. Eine Linke, die nicht vor der vom Neoliberalismus gezeichneten globalen Ordnung resigniert […].“ Linke Melancholie habe schon immer existiert, müsse allerdings anerkannt werden, um für neue emanzipatorische Kämpfe fruchtbar werden zu können. Um dieses politische Anliegen geht es Traverso, der den Anti-Aids-Aktivismus der Homosexuellenbewegung der 1980er zum Vorbild nimmt. Diese hätte ihre Kraft aus der Trauer um ihre Freund*innen und Geliebten gespeist.

Verlieren, um zu gewinnen

Die Kunst ist dabei ein wichtiges Betrachtungsfeld für Traverso. Auf der Suche nach der Melancholie in der linken Vergangenheit führt der Autor uns durch eine Galerie der linken Kultur, in der ihre Texte, Bilder und Filme ausgestellt sind. In den einzelnen Kapiteln, die teilweise auf schon älteren Texten Traversos basieren, zeichnet er die Linie der verborgenen Tradition an ganz unterschiedlichen Beispielen nach. Es geht dabei um die Rolle der Niederlagen in der Geschichte der Linken sowie um die Frage nach Erinnerung für marxistische Bewegungen. Filmen widmet Traverso ein ganzes Kapitel, ebenso wie dem Verhältnis zwischen antikolonialen Bewegungen und europäischen linken Denkern. Auch in der Bohème des 19. Jahrhunderts und im Briefwechsel zwischen Theodor W. Adorno und Walter Benjamin meint Traverso Anknüpfungspunkte zu sehen, um sich mit dem Melancholischen zu befassen. Der Begriff der linken Melancholie ist dabei über weite Strecken eher eine lose Klammer, das Buch mehr eine Collage, ein Lesebuch, in dem man vor- und zurückblättern kann.

Linke Niederlagen spielen hier also eine besondere Rolle, und Traverso sucht nach ihrer Funktion für die Linke selbst. Die Pariser Commune von 1871, der sogenannte Spartakusaufstand vom Januar 1919 in Berlin oder der Militärputsch gegen die Regierung Salvador Allendes 1973 waren katastrophale Erfahrungen für emanzipatorische Bewegungen. Trotz des Schreckens und der Trauer, so möchte Traverso an Texten und Kommentaren von Karl Marx, Rosa Luxemburg und Allende zeigen, waren diese Niederlagen Kraftquellen für die Zukunft. Die historischen Situationen, in denen emanzipatorische Bewegungen besiegt und vorerst vernichtet wurden, erscheinen so als Gehversuche, deren Scheitern Anlass zu erneutem Aufbruch gaben. „Die Trauer ist von Hoffnung untrennbar.“

Niederlagen zwischen Historie und allegorischer ­Repräsentation

In Filmen sieht der Autor „gedankliche Erfahrungen über die Vergangenheit“, womit Traverso meint, dass in ihnen Erlebtes verarbeitet wird, weshalb sie dem Historiker als Quelle dienen. Er analysiert daher verschiedene Kinowerke, die sich mit revolutionären Episoden in Europa oder dem antikolonialen Befreiungskampf befassen. So beschreibt Traverso beispielsweise ein Filmprojekt des italienischen Regisseurs Luchino Visconti, dessen Film Die Erde bebt erstmals 1948 gezeigt wurde. Visconti habe ursprünglich beabsichtigt, eine Trilogie über Klassenkämpfe in Italien zu schaffen, deren glorreiches Finale die erfolgreiche Besetzung von Ländereien durch Bäuerinnen darstellen sollte. Aus Geldmangel konnte Visconti jedoch nur den ersten Film realisieren, der das Elend italienischer Küstendörfer zeigt. Die Veröffentlichung des Streifens fiel zeitlich zusammen mit der Niederlage der kommunistischen Bewegung in Italien Ende der 1940er Jahre. Das gescheiterte Filmprojekt interpretiert Traverso als künstlerische Parallele, in der sich die Melancholie über die linke Niederlage ausdrückt. Eine derartige Analyse ist also eher sinnbildlich zu verstehen und nicht streng historiografisch. Einen direkten Zusammenhang zwischen dem Scheitern des Filmprojektes und dem Scheitern der italienischen Linken zu dieser Zeit weist der Autor nämlich gar nicht nach. Für Traverso ist der Film vielmehr eine „allegorische Repräsentation der Niederlage“. Zugleich kontrastiert der Autor derartige Filme mit solchen wie Das Leben der Anderen von 2006, in denen der Sozialismus nur noch als totalitäre Vergangenheit erscheint und damit keinerlei emanzipatorisches und utopisches Potenzial mehr besitzt.

Während solche Abschnitte klar von der Frage nach der Melancholie geleitet werden, ist der rote Faden in anderen Abschnitten von Traversos Buch nur noch schwer auszumachen. So ist es nicht durchweg offensichtlich, was die Bohème des 19. Jahrhunderts, mit der der Autor sich ausführlich befasst, über melancholische Gefühle in der Linken aussagt. Das gleiche gilt für das Verhältnis zwischen Adorno und Benjamin sowie Karl Marxʼ ambivalenter Haltung gegenüber dem Kolonialismus und den Kolonisierten, die Traverso ausführlich behandelt. Wer daher gleichsam komplementär dem Verlust der Zukunft nachspüren möchte, sollte zu Mark Fishers Schriften greifen, in denen dieser vor allem in den Produkten der industrialisierten Kunst, der heutigen Popkultur, die symbolischen Ablagerungen des deprimierenden von ihm so bezeichneten „kapitalistischen Realismus“ freilegt.

Die Leistung Traversos ist es jedoch, die Melancholie her­vorzuholen und sie der Linken zur bewussten Reflexion zu präsentieren. Damit gewährt er gleich zwei verschiedenen ­Kategorien ihren Platz im linken Denken. Erstens dem Emotionalen, das stets Antrieb progressiver Bewegungen darstellt, jedoch oft Gefahr läuft, entweder vom Rationalismus theoretischer Gesellschaftskritik oder von blind-aktivistischer Rastlosigkeit begraben zu werden. Gerade der Zusammenhang zwischen Depression und Befreiungssehnsucht ist bedenkenswert. Zweitens schafft Traverso Raum für das Vergangene, aus dem Linke nicht nur Melancholie schöpfen können, sondern auch Wissen über ihre eigene Geschichte, das es braucht, um neue emanzipatorische Kräfte zu erschaffen. Eine solche Rückbesinnung könnte den positiven Zusammenhang zwischen Gestern und Morgen wiederherstellen. Sie könnte helfen, aus der unerträglich unendlichen Gegenwart einen Ausweg in die Zukunft zu zeigen.

 


Felix Matheis ist Historiker und lebt in Hamburg.


1 Mark Fisher, Gespenster meines Lebens. Depressionen, Hauntology und die verlorene Zukunft. Berlin 2015, S. 15. Fisher übernimmt diese Formulierung wiederum vom italienischen Marxisten Franco Berardi.

2 Neben Gespenster meines Lebens auf Deutsch erschienen: Mark Fisher, Kapitalistischer Realismus ohne Alternative? Eine Flugschrift. Hamburg 2013; ders., Das Seltsame und das Gespenstische. Berlin 2016; ders., k-punk. Ausgewählte Schrift (2004-2016). Berlin 2020.