Tropen-Nackt oder Den Kirchner im Dorf lassen?

Schmückendes Beiwerk und die Bloßstellung

Ernst Ludwig Kirchner lädt ein. Mit seinem expressionistischen Ölgemälde Atelierecke (1920) gewährt uns der Hedonist und Eremit einen intimen Blick in seine Werkstätte. Bei der auf Leinwand gebrachten Leidenschaft wähnt man sich auf einer Soirée in irgendeiner Spree-Athener Jugendstil-Villa. Aber dieses babylonische Gefilde entfaltet sich nicht in Berlin, sondern auf der Schweizer Längmatte. Das liegt in Frauenkirch bei Davos. Jawohl. Da, wo es teuer wird. Da, wo heutzutage, ein Jahrhundert später, das WEF tagt, um den Kapitalismus vor der Welt zu retten. Ausgerechnet hier verbrachte Kirchner, alias Louis de Marsalle, seine letzten Jahre. Der gelernte Mitgründer der renommierten Dresdner Künstlergruppe Die Brücke hatte mittlerweile alle Brücken hinter sich abgerissen. Zudem waren seine Werke von den Nationalsozialisten als „entartet“ gebrandmarkt worden. Dieses Kainsmal war, kulturell betrachtet, ein Ritterschlag.

Ob seine „Negerplastiken“, wie er sie schwärmerisch nannte, ihm auch nur eine schweißperlengroße Träne nachweinen? Er hatte sie entdeckt, die süßen Black Girls, wie Weiße es in der unendlichen Age of Discovery es so tun. Er holte sie raus aus der Unsichtbarkeit. Er porträtierte sie. Während er im Grabe liegt, verweilen sie noch diesseits, sogar in einigen der renommiertesten Galerien und Sammlungen der Welt. Eingerahmt und zur Schau gestellt. Und sie müssen nichts tun, außer weiterhin verfügbar sein. Das kann gar nicht so schlimm sein, oder?

Das perfide an der Exotisierung anderer Menschen – seien es Schwarze, Juden/Jüdinnen oder Ostasiatische – ist, dass ihre eigene -Kultur und ihre persönlichen Charakteristika ausgeblendet werden. Wer zur Karikatur wird, fristet ein quälend langes Dasein als Exponat. Etwas Fremdes, das beliebig als benutzbar oder bedrohlich abgestempelt werden kann.

Wie besessen ließ er dunkelhäutige Frauen seine Aktphantasien bevölkern, teils von Kuhköpfen begleitet. Dabei müsste man Kirchner nicht des Kunstraubes bezichtigen. Nein, der erklärte Afrika-Liebhaber mit einem Faible für Kunst aus Kamerun hat zahlreiche Figuren in eifriger Eigenregie geschnitzt. Doch es geht nicht lediglich um die physische Provenienz der Werke. Indem er seine Menagerie als Menschenzoo entstehen lässt, begeht er einen bloßstellenden Beutezug. Frauen werden ebenso beliebig wie besessen auf die Leinwand geholt. Exotisiert, objektifiziert, sexualisiert, als schmückendes Beiwerk einer Collage à la Copy-and-Paste. Kirchners Atelierecke ist authentisch – und nolens volens aktueller denn je. Somit hält er uns Voyeuer*innen – ob als Opfer*innen oder Täter*innen – posthum einen Spiegel vor.

Wenn ich durch das 126 x 121 cm große Fenster ins Atelier schaue, betrachte ich den tragischen, talentierten Künstler zweifelsohne als Opfer. Aber nicht nur. Denn Kirchner war auch Teil des Systems. Des Systems, das die Tugenden von Knigge tradierte und gleichzeitig an das Gute im Kolonialismus glaubte. Die Clique verurteilte Religion als Opium fürs Volk, kokettierte aber mit Kokain und mit dem Kapitalismus selbst. Man muss ziemlich privilegiert sein, um sich freiwillig ein Leben am Rande der Gesellschaft leisten zu können. Der Kolonialist als Kosmopolit. 


Michaela Dudley, eine Berliner Queerfeministin mit afroamerikanischen Wurzeln, ist Buchautorin, Kabarettistin, Filmschauspielerin und gelernte Juristin (Juris Dr., US).