Ende 2019 haben Entwürfe zu einem Sammelgesetz, das drastische Änderungen im Kulturbereich vorsah, in Ungarn für Aufruhr gesorgt. Die ersten durchgesickerten Informationen veröffentlichte das Online-Kunstmagazin artportal.hu am 3. Dezember. Es hieß, die Regierung wolle die Entscheidungsgewalt über Förderungen, Personalfragen und Entwicklungen im Kulturbereich stärker beim Staat, im Ministerium für Humanressourcen und bei sogenannten Kulturinstitutionen von hoher Priorität konzentrieren. Der seit 1993 für die Verteilung von kulturellen Projektförderungen zuständige Nationale Kulturfonds (Nemzeti Kulturális Alap) solle aufgelöst und stattdessen ein Nationaler Kulturrat geschaffen werden. Letzterer solle mit den Leiter_innen besagter Vorzeige-Institutionen aus verschiedenen Bereichen (darstellende und bildende Kunst, Musik, Literatur etc.) besetzt werden, mit dem Minister für Humanressourcen an der Spitze. Damit wäre die Arbeit des einst autonom agierenden Kulturfonds, der seit 2010 zunehmend von Mitgliedern der regierungsnahen Ungarischen Akademie der Künste (Magyar Művészeti Akadémia) und direkten Delegierten der Regierung in seinen Beratungsgremien und Jurys beeinflusst wurde, noch weiter torpediert worden. Formal wurde die Unabhängigkeit des Gremiums bereits 2016 aufgehoben, als es dem Ministerium unterstellt wurde.
Das Gesetz hätte zudem massive Eingriffe in die Theaterszene vorgesehen. Die Regierung wollte einerseits die Strukturförderung der freien Theaterszene einstellen, andererseits dem Minister für Humanressourcen Mitspracherecht bei der Ernennung neuer Intendant_ innen städtischer Theater zusprechen. All das zeugt nicht nur von der Absicht der Regierung, ihre Kontrolle über öffentliche Kulturgelder auszudehnen, sondern bedeutet auch einen dezidierten Angriff auf kulturelle Diversität und Stimmenpluralität, besonders im Bereich der darstellenden Kunst. Es ist zudem eine indirekte Kriegserklärung an jene Gemeinden, in denen im Oktober 2019 die Opposition die Kommunalwahlen gewann.
Breite Proteste wurden von der Vereinigung Freie Darstellende Künste (Független Előadóművészeti Szövetség) initiiert, der Interessenvertretung der Freien Szene. Prominente Stadttheater schlossen sich dem Protest an. Dieser mündete in eine Petition, die von über 55.000 Menschen unterzeichnet wurde, und in einer Demonstration in Budapest am 9. Dezember, zu der rund 13.000 Menschen kamen. Unter anderem hielt der neue Bürgermeister Budapests, Gergely Karácsony, eine Rede, und der Stadtrat unterstützte die Veranstaltung mit Bühnentechnik. Die Kampagne propagierte „Freiheit für das Land, die Stadt und die Kunst“ und verkündete den Slogan „Kultur ist ein nationales Minimum“ als Motto: ein Wortspiel mit dem Namen des Kulturfonds, da in ungarischer Umgangssprache Fonds auch ein nicht hinterfragbares Minimum bedeutet.
Die Proteste bewirkten eine Überarbeitung des ursprünglichen Gesetzentwurfs. Noch Ende 2019 wurde die veränderte Version im Eilverfahren verabschiedet. Der Kulturfonds wurde nicht aufgelöst, aber ein Nationaler Kulturrat geschaffen, dessen Vorsitzender direkt von der Regierung berufen wird. Die Strukturförderung der Freien Szene wurde nicht abgeschafft, die Änderungen des Theatergesetzes wirken sich aber vermehrt auf die Stadttheater aus. Ab 2020 garantiert der Staat Förderungen nur mehr für staatlich betriebene Institutionen, die städtischen Theater müssen von den Kommunen finanziert werden. Falls sie dazu nicht in der Lage sind, müssen sie um Zuschüsse vom Staat ansuchen und diese individuell vereinbaren. Diese Regelung ist besonders heikel, da bisher die Stadttheater vom Ministerium für Humanressourcen kofinanziert wurden und darüber substanzielle staatliche Förderung genossen. So haben die städtischen Theater in Budapest im Durchschnitt 74,3% ihrer Förderungen vom Staat und nur 25,7% von der Stadt erhalten. Sie werden also gezwungen sein, erneut um staatliche Förderungen anzusuchen und deren Bedingungen auszuhandeln. Zusätzlich sieht das Gesetz vor, dass in kommunalen Theatern, die zu weniger als 40% durch städtische Förderung finanziert werden, das Ministerium seine Zustimmung zur Besetzung der Intendanzen geben muss. Derzeit betrifft das alle Theater in Budapest, bis auf eines.
Während die Regierung und regierungstreue Intendant_innen behaupten, dieses Modell sei transparenter, weil nun staatliche Institutionen vom Staat und städtische von der Stadt gefördert werden, leitet eine solche Absage an die Kofinanzierung eindeutig eine neue Phase des Kulturkampfs ein, der die Kulturszene in den letzten Jahren gespalten und polarisiert hat. Die Orbán-Regierung hat seit jeher verstanden, skrupellos Geld als Machtmittel einzusetzen. Mit dieser „teile und herrsche“-Politik umzugehen wird für die städtischen Theater in regierungstreuen Kommunen leichter sein als für jene, die in Opposition stehen. Neben Budapest sind das weitere zehn regionale Hauptstädte von 23 im gesamten Land. Der Druck auf Budapest ist besonders groß. Ähnlich wie in Österreich ist auch in Ungarn die Konzentration kultureller Institutionen in der Hauptstadt besonders hoch.
Bis zum 1. März 2020 muss entschieden sein, welche Theater die Stadtregierung als „ihre“ halten will und für welche sie um Kofinanzierung vom Staat ansucht. Selbst Budapest kann sich nicht leisten, mehr als eine Handvoll Theater vollständig selbst zu finanzieren. Derzeit sind drei bis vier in der Diskussion. Diese könnten jedoch einen hohen Preis für ihre Unabhängigkeit zahlen. Wegen des begrenzten kommunalen Kulturbudgets wird ihre Finanzierung wahrscheinlich stagnieren, zudem geraten sie in völlige Abhängigkeit von der Stadtregierung. Es steht zu befürchten, dass das bisher sehr diverse kulturelle Gefüge städtischer Theater in Budapest nun zersplittert und aufgeteilt wird zwischen politisch und ideologisch in Konflikt stehenden Parteien, dem Staat und der Stadt. So könnte eine bisher komplexe und heterogene Infrastruktur in als „linksliberal“ und „rechts“ kategorisierbare Institutionen zerfallen. Das neue Gesetz verschleiert absichtlich – und man könnte argumentieren, entgegen der Verfassung – die Tatsache, dass staatliche Förderungen aus öffentlichen Geldern kommen und dass der Staat nach der ungarischen Verfassung verpflichtet ist, Kultur als öffentliches Gut zu fördern, und nicht nur kulturelle Aktivitäten nach seinem Belieben.
Momentan ist unklar, welche Strategie der Budapester Stadtrat verfolgen wird. Bürgermeister Gergely Karácsony rief dazu auf, „die städtischen Theater zu schützen“ und möchte erreichen, dass sie „die Gesetzesänderung nicht bemerken“. Diese Forderung klingt bestenfalls idealistisch. Gleichzeitig erklärte er, bei einigen Institutionen jegliche staatliche Intervention verhindern zu wollen, was darauf hindeutet, dass die Stadtregierung die exklusive Finanzierung ausgewählter Theater anstrebt. Die Theaterkritikerin Judit Csáki warnte im Online-Magazin Revizor den Stadtrat davor, sich der polemischen neuen Gesetzgebung zum Komplizen zu machen. Sie ruft dazu auf, in erneute Verhandlungen zu treten, um die Position der Kommunen zu stärken, statt den Gesetzen Folge zu leisten und das Inakzeptable zu normalisieren.
Es gibt Grund zur Sorge, dass das Tauziehen um die kommunalen Theater auf lange Sicht die Freie Szene betreffen wird. Auch wenn die Strukturförderung nicht vollständig abgeschafft wurde, gibt es Unstimmigkeiten im Durchführungsdekret des neuen Gesetzes. Das Wort „Strukturförderung“ wurde in der Beschreibung des Förderantragsprozederes gestrichen. Adrienn Zubek, ein Vorstandsmitglied der Vereinigung Freie Darstellende Künste, weist darauf hin, dass es verheerende Folgen hätte, wenn die Förderung der Freien Szene ebenfalls den Kommunen übertragen werden sollte. Nicht nur sind die kommunalen Kulturbudgets dafür zu klein, auch haben viele Gruppen, die zum Beispiel in Budapest arbeiten, Strukturen – gemeinnützige Vereine oder Stiftungen –, die an anderen Orten registriert sind und deshalb unter die Gerichtsbarkeit anderer Gemeinden fallen würden.
Besonderen Dank an Adrienn Zubek für das persönliche Gespräch.
Übersetzung aus dem Englischen von Sophie Schasiepen
Quellen:
artPortal, A kormány januártól megszüntetné a Nemzeti Kulturális Alapot? (Will die Regierung ab Januar den Nationalen Kulturfonds abschaffen?), 3. Dezember 2019
Humán Platform (red.), Hungary Turns Its Back on Europe – Dismantling Culture, Education, Science and the Media in Hungary 2010-2019
Judit Csáki, Jobbhorog és balegyenes – A főváros és a kormány alkudozása a színházakról (Rechter Haken und linke Gerade – Das Verhandeln zwischen Hauptstadt und Regierung über Theater), Revizor Online, 11. Februar 2020
Vereinigung Freie Darstellende Künste, Petition gegen die Zerstörung des Kulturlebens