Solidarität im Kulturbetrieb – mehr als eine Geste

Solidarität tritt in den letzten Jahren im Kulturbetrieb vermehrt als entscheidende Bezugsgröße in Erscheinung. Künstler* innen wollen ihre Werke als solidarische Geste verstanden wissen, Kritiker*innen messen künstlerischen Erfolg daran, ob ein solidarischer Akt für sie authentisch ist, und Kulturschaffende rufen angesichts des Rechtsrucks zu mehr Solidarität im Kulturbetrieb auf. So intervenierten Schwarze Künstler*innen, darunter Parker Bright und Hannah Black, als Dana Schutz auf der Whitney Biennale 2016 ihr Gemälde Open Casket des ermordeten Schwarzen Emmett Till ausstellte – ein Bild, das in Schutz’ Augen als solidarische Geste gemeint war, von ihren Kritiker*innen aber als Instrumentalisierung und Ästhetisierung Schwarzen Leids gelesen wurde. [1] Die Documenta 14 wurde von den Journalist*innen und Künstler*innen wohlwollender aufgenommen, die Adam Szymczyks kuratorische Setzung, die Documenta an zwei Spielorten in Kassel und Athen zu veranstalten, einen „echten“ solidarischen Akt mit Griechenland sahen und keine leere Geste. [2]

Diese Beispiele verdeutlichen, dass der Wunsch, sich zu solidarisieren und Allianzen zu bilden, um gesellschaftliche oder globale Missstände zu adressieren, auch mit dem Erstarken der Neuen Rechten im Kulturbetrieb zunimmt. Solidarität wird dabei zu einem wichtigen Identifikationsmoment: Denn „Solidarität stiftet Verbindungen. Solidarität vermag es, Spaltungen zu überbrücken und Verstreutes zusammenzufügen.“ [3] Gleichzeitig werfen die genannten Beispiele aber auch Fragen zu den Möglichkeiten und Grenzen von Solidarität im Kulturbetrieb auf: Wer solidarisiert sich eigentlich mit wem und wer profitiert von der öffentlichen Solidaritätsbekundung? Wie glaubwürdig oder wirkungsvoll ist eine Kritik, die sich solidarisch zeigen möchte und Missstände in der Gesellschaft anprangert, wenn sie in einem Betrieb wurzelt, dessen Strukturen in weiten Teilen genauso ausbeuterisch und diskriminierend sind? [4] Oder anders gefragt: Wann verkommt eine Solidaritätsbekundung zu einer bloßen Geste?

Ein Beispiel ist hier die Initiative Die Vielen, ein Bündnis, in dem sich viele etablierte und einflussreiche Kulturinstitutionen zusammengetan haben und sich mit dem Leitspruch „Solidarität statt Privilegien. Es geht um alle. Die Kunst bleibt frei“ gegen den gesellschaftlichen Rechtsruck engagieren. [5] Natürlich gibt es eine Notwendigkeit, dass sich der Kultur – betrieb hier klar und deutlich positioniert und diese Positionierung ist begrüßenswert. Allerdings braucht es auch Strategien und Selbstverpflichtungen, die marginalisierte und von Diskriminierung betroffene Mitarbeiter*innen und Kulturschaffende stärken. In vielen Kulturinstitutionen fehlt eine ehrliche Auseinandersetzung damit, wie diskriminierende Praxen in der eigenen Organisation abgebaut und verhindert werden können. Öffentliche Positionierungen allein reichen nicht aus, vielmehr müssen Kulturinstitutionen auch eine solidarische Arbeitskultur entwickeln, die ihren formulierten Ansprüchen gerecht wird.

Solidarität ist seit jeher ein komplexer und ambivalenter Begriff, der einerseits synonym für das utopische Ziel einer Gemeinschaft auf Augenhöhe und andererseits als strategisches Mittel, um dieses Ziel herzustellen, verwendet wird. Die Forderung nach Solidarität tritt meist in Krisen- und Umbruchzeiten in Erscheinung, um Ungleichheits- und Machtverhältnisse innerhalb von sozialen Beziehungen zu beschreiben oder zu kritisieren. Vage bleibt allerdings meist, wie sich Solidarität jenseits eines theoretischen Verständnisses in gelebte Praxis umsetzen lässt.

Historisch betrachtet taucht der Begriff der Solidarität erstmals im 19. Jahrhundert in Frankreich als Reaktion auf die Entstehung einer bürgerlichen Gesellschaft auf und durchläuft fortan verschiedene Aneignungs- und Umdeutungsprozesse – durch emanzipative Bewegungen wie Arbeiter- oder Frauenbewegungen, aber auch durch konservative Bewegungen oder Institutionen wie die Katholische Kirche oder gar durch rechte Gruppierungen. [6] Im Zuge dessen konstituierten sich auch erstmals institutionalisierte Formen der Solidarität, die die Beziehungsverhältnisse der Menschen zueinander durch Versicherungssysteme und Generationenverträge regulieren.

Der Soziologe Serhat Karakayali nutzt in diesem Zusammenhang die Motive einer „kalten“ und „heißen“ Solidarität [7], um zwischen institutionellen, d.h. öffentlich geregelten, und intersubjektiven, d.h. spontanen, eher empathiebasierten Formen von Solidarität zu unterscheiden. Im Gegensatz zu den „kalten Formen“, zeichnen sich „heiße, emergente Praktiken der Solidarität“ [8] durch gegenseitige Unterstützung aus und sind geprägt von dem Gefühl und Wissen, füreinander verantwortlich zu sein. Das Konzept eines anti-rassistischen Solidaritätsbegriffs ermöglicht insofern eine erweiterte Perspektive auf Solidaritätsdiskussionen im Kulturbetrieb, als mit Hilfe eines anti-rassistischen Solidaritätsverständnisses in Frage gestellt werden kann, unter welchen Bedingungen Solidarität zwischen Kulturschaffenden und Künstler*innen mit ungleichen Chancen und Ressourcen überhaupt möglich ist, ohne in Paternalismus zu verfallen und Hierarchien zu reproduzieren.

Solidarität in der Praxis. Den Blick nach innen richten

Im Theaterbetrieb hat die Kritik aus den eigenen Reihen in den letzten Jahren stark zugenommen: Während prekäre Arbeitsbedingungen, sexistische Machtstrukturen, diskriminierende Besetzungspraktiken und die Vergabe von Intendanzen in Hinterzimmern lange als „Gepflogenheiten“ des Betriebs hingenommen wurden, gründeten sich in den vergangen Jahren einige Initiativen, in denen sich Kulturschaffende zusammenschließen, um diese Missstände zu skandalisieren und strukturelle Veränderungen zu erwirken.

Ein Beispiel ist die Initiative für Solidarität am Theater (ISaT), die sich auf ein Konzept von Solidarität beruft, das sowohl nach innen auf die eigene Organisation als auch nach außen auf den Kulturbetrieb gerichtet ist und dadurch das Potenzial für Strukturveränderungen entwickelt: [9] „Das größte Paradox der deutschen Kulturszene ist es, dass sie sich zwar auf der künstlerischen Seite kritisch mit ausbeuterischen Prozessen der Gegenwart auseinandersetzt, sie jedoch selbst in ihren Strukturen reproduziert” [10]. Dieses Paradox will die ISaT auflösen, indem sie sich als intersektionales Bündnis aufstellt: „Raus aus der Vereinzelung, rein in ein intersektionales Bündnis – mit dem Bewusstsein, dass das Wir* aus Vielen besteht, die ähnlichen Widerständen im Beruf ausgesetzt sind“. Dieses Selbstverständnis regt eine Auseinandersetzung mit sozialen Kräfteverhältnissen an. Indem die Möglichkeit geschaffen wird, unterschiedliche Positionierungen aufzurufen, kann darüber gesprochen werden, wer von welchen Barrieren im Kulturbetrieb betroffen ist und wem welche Ressourcen zur Verfügung stehen, um diese Barrieren zu überwinden. Dadurch wirkt die ISaT einerseits der Reproduktion von Strukturen entgegen, die gesellschaftliche Ungleichheit herstellen und verstärken, andererseits schafft sie eine starke Gemeinschaft, die gemeinsam Forderungen formulieren und politischen Druck aufbauen kann. Dezentral, d.h. bewusst nicht auf Berlin beschränkt, bietet sie Vernetzungsräume an, die Theaterschaffende empowern, die bestehenden Strukturen nicht als individuelle schlechte Arbeitsbedingungen hinzunehmen, sondern als strukturelles Problem zu hinterfragen.

Das Beispiel der Initiative für Solidarität zeigt, dass Solidarität nicht auf der Ebene eines Bekenntnisses stehen bleiben muss. Doch wo sollte eine solche Strategie im gesamten Kulturbetrieb ansetzen, damit sie erfolgreich sein kann? Gayatari Spivak gibt hier einen wichtigen Ansatzpunkt: Im Mittelpunkt muss die Auseinandersetzung mit den eigenen Privilegien stehen. Für Spivak setzt Solidarität ein Wissen dafür voraus, wie Ungleichheiten produziert und reproduziert werden. Denn Solidarität hat Gleichstellung zum Ziel und nicht zur Voraussetzung. Solidarität wird erst dann zu einer wirksamen Handlungsstrategie, wenn die Einsicht und selbstkritische Auseinandersetzung über die eigenen Privilegien zur Herstellung von Selbstrepräsentation Marginalisierter beiträgt, ohne diesen wiederum Handlungsmacht abzusprechen. Notwendig hierfür ist jedoch die Bereitschaft von privilegierten Akteur*innen, die eigenen Privilegien zu „ver-lernen“. Dieses Verlernen ist nicht leicht, sondern eine „anstrengende Lern-Praxis-Erfahrung“. Es ist jedoch dringend notwendig, wenn der Begriff der Solidarität nicht eine leere Geste bleiben soll. Es geht also nicht einfach nur darum, sich seiner eigenen Privilegien zu schämen oder diese zwingend abzugeben, sondern darum, dass das Festhalten an Privilegien oder ein unreflektierter Umgang mit ihnen, Gefahr läuft „kritisches Denken zu vernebeln und die Imaginationshorizonte einzuschränken“ [11], oder gar einen Verlust bedeuten kann: „Wer etwa von der heteronormativen sozialen Ordnung profitiert und dabei nie ein Gefühl des Verlustes verspürt hat, verpasst die Mannigfaltigkeit sexuellen Begehrens.“ [12] Besonders die etablierten Kulturinstitutionen müssen sich selbst befragen, wie ihre Strukturen bestimmte Gruppen ausschließen und wie Privilegien verhindern, dass Künstler*innen und Kulturschaffende aus marginalisierten gesellschaftlichen Gruppen Zugang zu Institutionen und Ressourcen erhalten. Die Verknüpfung von Solidarität und Privilegien im Sinne einer Umverteilungspraxis von Ressourcen findet bisher leider nur selten statt. [13] Stattdessen lässt sich eine Tendenz feststellen, Solidarität entweder rhetorisch zu proklamieren oder in Kunstwerken zu inszenieren. Das Gemälde des ermordeten Emmett Till ist hierfür ein Beispiel. Die Diskriminierung und Marginalisierung des Anderen wird dann zum bloßen Objekt der Kunst und verkommt zu einer Ware auf dem Kunstmarkt. Das ist keine solidarische Praxis sondern zementiert unreflektiert die Diskriminierung marginalisierter Gruppen. Eine neue solidarische Praxis würde hingegen mit selbstkritischen Fragen beginnen: „Wie kann kann ich sozusagen mein bisschen Fuß in der Tür was ich habe, vielleicht nutzen, um anderen die Tür aufzuhalten. Oder wo kann ich dazu beitragen, Sachen umzuverteilen. Oder wo kann ich Kritik anbringen, die woanders grad nicht gehört wird oder wo kann ich einfach Raum geben für bestimmte Perspektiven?“ [14]


Cordula Kehr ist Sprach- und Literaturwissenschaftlerin. Sie arbeitete am Schauspiel Frankfurt und ist aktuell Referentin für Kommunikation bei Diversity Arts Culture, dem Berliner Projektbüro für Diversitätsentwicklung. Eylem Sengezer ist Kunsthistorikerin und Germanistin. Sie arbeitet als Referentin für Diversity Arts Culture und ist zudem als freie Kuratorin tätig.


[1] www.theguardian.com/artanddesign/2017/mar/21/whitney-biennialemmett- till-painting-dana-schutz

[2] www.welt.de/kultur/kunst/article165357984/Die-Revolution-frisst-ihre- Kunst.html – www.deutschlandfunkkultur.de/kommentar-zum-ende-derdocumenta- in-athen-versuch-und-anfang.1013.de.html?dram:article_id= 391188, 2. 9. 2019

[3] Bini Adamzczak: www.akweb.de/ak_s/ak641/35.htm, 2. 9. 2019

[4] Mittlerweile gibt es einige Studien zu den (selbst)ausbeuterischen und diskriminierenden Strukturen im Kulturbetrieb wie z.B. die 2015 von art but fair initiierte Studie Faire Arbeitsbedingungen in den Darstellenden Künsten und der Musik?! sowie die Studie des Instituts für Strategieentwicklung zur Situation der Gegenwartskunst in Berlin (2018) und Frauen in Kultur und Medien (Deutscher Kulturrat, 2016), die die Frage der Gleichstellung von Frauen im Kulturbetrieb in den Fokus gestellt haben.

[5] www.dievielen.de/erklaerungen/berlin, 2. 9. 2019

[6] Für eine vertiefte Begriffsgeschichte siehe die Veranstaltungsreihe … und nicht vergessen: Solidariät der Berliner Jour Fixe Initiative, insbesondere die Vorträge Kosmopolitische Solidarität von Serhat Karakayli und Gefühlte Solidarität und Gefühle der Solidarität von Sarah Binder, www.jourfixe.net/index.php, 2. 9. 2019

[7] Siehe den Vortrag Kosmopolitische Solidarität von Serhat Karakayali (vgl. Fußnote 6).

[8] Ebd.

[9] Einige weitere Initiativen, die die Verhältnisse im Theaterbetrieb skandalisieren und auf eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen hinwirken, seien an dieser Stelle zumindest genannt: ensemble-netzwerk, art but fair, Pro Quote Bühne, Bühnenwatch. Auch mit der Intervention und Konferenz Vernetzt Euch! wurden bereits 2015 Visionen und Strategien für eine diskriminierungskritische Kulturpraxis in einem breiten Bündnis entwickelt: www.vernetzt-euch.org

[10] Zitat aus dem Manifest der ISaT: https://solidaritaet-am-theater.org

[11] Vgl. Maria do Mar Catro Varela: Strategisches Lernen, Juli 2015, www.zeitschrift-luxemburg.de/strategisches-lernen, 5. 9. 2019

[12] Ebd.

[13] Ein Beispiel dafür, wie sich Solidarität und die Frage von Privilegien und Ressourcen miteinander verknüpfen lassen, ist das Zine what is allyship? von PeerNetBC, www.peernetbc.com/what-is-allyship, 17. 9. 2019

[14] Pia Rauschenberger und Trang Thu Tran: Die unangenehme Wahrheit sozialer Ungerechtigkeit, www.deutschlandfunkkultur.de/psychologie-undprivilegien- die-unangenehme-wahrheit.976.de.html?dram:article_id=452441, 5. 9. 2019