Respektlosigkeit und Diskursethik

Punk als Methode der universellen Infragestellung

Habe ich in einer Diskussionsrunde mal wieder schlechte Laune oder bin einfach nur ungeduldig, wenn ich ein falsches Argument höre, entschuldige ich mich für etwaige überhitzte, heftige Reaktionen öfters mit meiner Sozialisierung durch Punk. Anders als noch vor einigen Jahren sind mir solche Reaktionen plötzlich peinlich. Alle anderen, vor allem die deutlich Jüngeren, beginnen einen Einwand nämlich zunächst mit einer langen entwarnenden Anmoderation: Im Prinzip bin ich Deiner Meinung, schön, dass Du das gesagt hast, was Du gesagt hast etc., da wäre nur ein kleiner, minimaler etc. pp. So was wie falsche Argumente gibt es eigentlich gar nicht, nur verschiedene Perspektiven. Usf.

Was heißt „durch Punk sozialisiert“? Tatsächlich stimmt das nicht ganz; denn eigentlich bin ich viel mehr von Hippies, Kiffern und diversen dogmatischen und auch ganz undogmatischen Linken noch vor der Ankunft von Punk in der alten BRD sekundärsozialisiert worden. Punk bot mir vielmehr die Möglichkeit, diese Sozialisierung noch einmal zu überprüfen: Das taugt natürlich gut für Ich-Legenden. Plötzlich hat man eine Distanz zur Genese der eigenen Persönlichkeit und ist doch erst 20 Jahre alt.

Die Monotonie mancher Befreiungserzählung, die Einsinnigkeit, mit der vor 1977 gesellschaftlicher Fortschritt verstanden wurde, ja, auch die Normativität, mit der ein bestimmtes Verhalten der Gleichgesinntheit ohne jedes Gespür für die Tatsache durchgezogen wurde, dass man gegen die Konvention eine noch viel drastischere Konvention erzeugt hatte – eine, der man freiwillig nachgibt und die man nicht als solche erkennt –, all das wurde durch Punk und seine Undurchdringlichkeit, Widersprüchlichkeit und eine immens hohe Geschwindigkeit der Ereignisse und Revisionen relativiert. Zu den Errungenschaften späterer Auseinandersetzungen über symbolische Politik wie dem selbstverständlichen Wissen darüber, wie alltägliche Intersubjektivität, wie Konversationen und Verhaltensmuster von Machtverhältnissen strukturiert sind, gehört auch ein Bewusstsein der Künstlichkeit und Diskutierbarkeit dieser Alltäglichkeit. Machtverhältnissen entgegengesetzte oder diese kenntlich machende Sprachregelungen an Institutionen haben dazu beigetragen, dass die Berufung auf die Naturwüchsigkeit des eigenen Schnabels nicht mehr zieht – auf die hatte sich ja so manches Gebrüll oder manche sarkastische Schärfe in der Punk-Zeit bezogen. Das Wissen um die besagte prinzipielle Künstlichkeit und Diskutierbarkeit sprachlichen Verhaltens hilft Regelungen zu ändern – und zwar aus politischen Gründen. Das lehrten die 1990er.

Mittlerweile gibt es aber eine zweite Entwicklung und die betrifft weniger die Wahl der Worte, sondern Umgangsformen und eine Dominanz von Vorsichtsmaßnahmen aller Art, die längst nur noch wenig mit dem Schutz vor rassistischen, sexistischen, trans- oder homophoben Beleidigungen zu tun haben (vor denen man zu Punk-Zeiten in der Tat schlecht geschützt war: gleichzeitig gab es aber auch sehr viel mehr Artikulationen von feministischen und antirassistischen Positionen als zuvor): Kritik wird sehr schnell vorgeworfen, sie sei „herabsetzend“. Für ideologische Verbrechen haben sich die irreführenden Bezeichnungen „Hass“ oder „Hate Crimes“ durchgesetzt. Dabei sind es ja gerade nicht ungerichtet emotionale Aggressionen (also Hass), die man mit Hate Crimes verbindet, sondern ideologisch begründete – nämlich rassistisch, misogyne etc. – Verbrechen.

Offene Aggression, Respektlosigkeit, Sarkasmus hingegen waren genau die Mittel, die in Punk-Tagen für ein Befreiungsgefühl gesorgt hatten: das Offenlegen der Widersprüche in den Entwicklungen nach 68 und in den Positionen seiner Protagonist_ innen. Sich im Dissens mit einer allgemein geteilten Haltung zu befinden galt per se als Indikator von Wahrhaftigkeit – das half sowohl gegen ältere, noch postfaschistisch geprägte Eltern und Großeltern wie gegen jüngere von 68 geprägte Eltern oder ältere Geschwister und Lehrer_innen. Es galt im Modus der Negation zu bleiben wie die einschlägigen Songtitel oder -zeilen verkünden: No Feelings, No Values, No More Heroes und There ain’t no future in England’s dreaming. So ein Gefühl und auch eine Lebenspraxis der totalen Infragestellung lässt sich nicht lange leben – unabhängig davon, dass die vulgäranarchistische Gleichbehandlung und Äquidistanz gegenüber allen Verhaltenskonventionen politisch fragwürdig ist: denn nicht alle Konventionen schützen dieselben falschen Verhältnisse, nicht alle sind in demselben Maße falsch. Vor allem herrscht ohne die Entlastung durch unmarkierte Zonen des Selbstverständlichen eine permanente Überforderung, eine Art Selbstverpflichtung auf Unversöhntheit und Aggression, die stark an heutige Selbstverpflichtungen – Optimierung, Achtsamkeit etc. – erinnert.

Punk hatte als Ganzes kein politisches Programm, Punk als Methode der universellen Infragestellung, eines ultraskeptischen Debasement ließ (und lässt) sich mit allen möglichen politischen Bestrebungen verknüpfen. Ich will an dieser Stelle nicht ausführen, wie das gelang und misslang. Wie durch die Reduktion der Negation auf ihre emotionale Komponente und deren Pflege und Feier durch heutige Wut- und Hassbürger bis zum emanzipierten Faschisten auch von Punk und nachfolgenden Testosteron-Kulturen vorbereitet werden konnte oder aber auch wie eine kleine schlaue Verschwörung von NME-Redakteur_innen (glaubt man Jon Savages Chronik England’s Dreaming) in einer Nacht- und Nebelaktion beschlossen hat, der Punk-Bewegung eine linke Identität zuzuschreiben, bis diese hängen blieb und um die Jahrzehntwende Bewegungen wie Rock Against Racism entstanden.

Mich interessiert etwas Anderes: Der Widerspruchsgeist, die Ungeduld, die Respektlosigkeit wurden als Verhaltensfetisch, als Regel peinlich und unproduktiv – sie naturalisierten sich in den Habitus der 1980er hinein und daher wurde es nötig, in einer erneuten Anerkennung und Offenlegung der Künstlichkeit und Diskutierbarkeit von Verhalten andere Maßstäbe anzulegen – vieles davon entstand in den 1990ern, oft als Import von US-amerikanischen Debatten und wurde als Political Correctness bekannt. Wie wäre es aber, hätte man mit der Einführung sensiblerer Verhaltenskulturen in Bezug auf die unterschiedlichen Machtpositionen und Privilegien der Anwesenden die Aggression und die ungeduldige Unvermitteltheit der Punk-Sprache nicht ausgeschlossen? Unter welchen Bedingungen wäre es zugleich möglich, beides zu haben: Anerkennung der Machtunterschiede in der mit einander sprechenden Gruppe und die Produktivität des unvorsichtigen Redens?

In Übergangsphasen hat es dies ja gegeben und es hat zu intensiven und produktiven Diskursen beigetragen. Voraussetzung dafür war eine Art emotionale Evidenz, dass das scharfe Wort gegen eine Position nicht die persönliche Substanz der/s Sprechenden betrifft – also eine Art Diskursethik, die sich nicht auf die gewissermaßen Materialität des Gesprochenen selbst verlässt, sondern auf vorgeschaltete Selbstverständlichkeiten. Diese wurden von den alten Subkulturen getragen und genau gegen solche Selbstverständlichkeiten ging es oft in der heftigen Rede der Punk-Epoche. Das Problem scheint mir aber gerade darin zu liegen, dass sich beide Elemente einer produktiven oppositionellen Diskussionsform, beide Seiten, wenn man so will, zu verselbstständigen scheinen: der Schutz durch die geteilten Grundbestände verselbstständigt sich zur betulichen Vergewisserung, dass man sich nichts tun will und die produktiv konfrontative Ausstellung von Dissens verselbstständigt sich zur, oft testosterongesteuerten, tendenziell wutbürgerlichen Verliebtheit in die eigene Aggressionsfähigkeit. So gesehen war es historisch gesehen der Fehler, dass Hippie- und Punk-Kultur sich nur gegeneinander gerichtet haben, statt zu erkennen, dass sie gewissermaßen auf einander angewiesen waren, bzw. sich auf den gleichen Impuls bezogen.


Diedrich Diederichsen ist Poptheoretiker und Professor für Theorie, Praxis und Vermittlung von Gegenwartskunst an der Akademie der bildenden Künste Wien.