Im öffentlichen Raum zeigt sich das gesellschaftliche Zusammenleben und die Kultur einer Stadt. Es stellt sich also die Frage, wer wie viel Platz einnimmt und und wer woran teilhat. Aktuell rückt diese Frage immer mehr in den Hintergrund, denn in Zeiten der Pandemie werden Menschen in ihre privaten Räume zurückgedrängt und der Zugang und die Nutzung des öffentlichen Raums sind reguliert. Wer verfügt über einen privaten Balkon, eine Terrasse oder einen Garten und wer ist auf den öffentlichen Freiraum tatsächlich angewiesen? Wer hat die Möglichkeit, „Homeoffice“ zu machen und verfügt darüber hinaus sogar über ein privates Arbeitszimmer?
Laut Pierre Bourdieu ist die Macht über den Raum abhängig vom ökonomischen, sozialen, kulturellen und sprachlichen Kapital, sowie den Anpassungsmöglichkeiten. Raum ist zudem nicht unbegrenzt vorhanden und so kämpfen Menschen in unterschiedlichen Situationen um dessen Aneignung. Die Macht des Staates über den Raum, u.a über die Wohnbaupolitik und Steuereinhebungen, manifestiert sich dabei nicht nur im physischen Raum, sondern auch in der gedanklichen Grundhaltung. Was wäre aber, wenn nicht bestimmte Interessen die Bestimmenden wären? Was wäre, wenn die Teilhabe am öffentlichen Leben und somit Teilhabe an Kunst und Kultur, nicht nur an das eigene Kapital, in seinen verschiedenen Formen, gebunden wäre? Was wäre, wenn es ein bedingungsloses Grundeinkommen gäbe, wenn Grundbedürfnisse gesichert und Existenzängste reduziert wären?
Die italienische Künstlerin und Regisseurin Anna Rispoli ist solchen Fragen im Rahmen der Wiener Festwochen 2021 nachgegangen und Einkommen. Die bedingungslose Rede ist entstanden. Ein Appell, über Verteilungsgerechtigkeit, Prekarität und Nachhaltigkeit nachzudenken. Ein Plädoyer, die Utopien von heute als die Realitäten von morgen anzusehen, basierend auf Interviews mit Wiener:innen. Sie arbeitet über die Grenzen des künstlerischen Schaffens hinaus mit dem öffentlichen Raum und nutzt das urbane Gefüge in performativer Form, um Beziehungen zwischen Menschen, Städten und Identitäten sichtbar zu machen. Veranstaltungstipp: Close Encounters von Anna Rispoli im Rahmen der Wiener Festwochen 2022.
Das bedingungslose Grundeinkommen würde Klassenunterschiede nicht negieren, aber mehr Freiheit, Sicherheit und Würde bedeuten. Es würde bedeuten, ähnlichere Ausgangsbedingungen zu haben, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Es stellt sich zurecht die Frage, ob und welche künstlerischen Methoden und Praxen den Machtverhältnissen der Gesellschaft entgegenwirken können. Der öffentliche Raum, als jener, in dem unsere täglichen Interaktionen stattfinden, ist dabei unser Experimentierfeld. Kunst vor Ort, aber auch temporäre Kunst kann sehr wohl Impulse setzen, um ein breites und heterogenes Publikum anzusprechen und in diesen kollektiven Räumen sind den Utopien von heute keine Grenzen gesetzt.
www.festwochen.at/einkommen-die-bedingungslose-rede
Dilan Sengül ist Raumplanerin und arbeitet an der Schnittstelle von Stadtsoziologie und Kulturarbeit.
1 Pierre Bourdieu, Orteffekte. In: Ders., Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, UVK Konstanz 1998.
2 www.festwochen.at/einkommen-die-bedingungslose-rede