Urbane Brachflächen und Residuale städtischer Entwicklungen bilden die Leerstellen im Gefüge einer Stadt. Ob sie nun durch Misswirtschaft, Krieg, demografische oder ökonomische Veränderungen, rechtliche Problematiken oder gesellschaftliche Umstrukturierungen entstanden sind, sie sind die blinden Flecken, die „blank spaces“, die innerhalb städtischer Wandlungsprozesse kommen und gehen.
Aufgrund besonderer Entwicklungen jedoch, wie etwa des Mauerfalls in Berlin, oder länger andauernder ökonomischer Trends wie der Deindustrialisierung, verlängerter Planungsprozesse oder fehlender Infrastruktur, werden aus periodischen Brachen oft dauerhafte. Diese Leerstellen nicht als Loch, also negativ konnotierten Zustand, zu definieren, ist Herausforderung und Chance zugleich. Vergleichbar mit den Leerstellen innerhalb eines Kunstwerkes, dem Kennzeichen offener Kunstwerke, sind sie Angriffspunkte für jede_n Einzelne_ n, eine offen ausgesprochene Einladung, unmittelbar am Städtischen zu partizipieren. Die Leerstellen sind Orte unerfüllter Versprechen und unbegrenzter Möglichkeiten. Sie sind, anders als Marc Augés „Nicht-Orte“, Orte mit Identität und Charakter, Beziehungen und Geschichte. Die vielfältigen Informationen, die diese Orte bereithalten, bilden jedoch keine geschlossene Decke, sondern vielmehr ein locker gewebtes Netz, das zwar ein Profil schafft, jedoch in seiner Flexibilität gleichzeitig auch Anknüpfungspunkte und Plattformen – Startpunkte von Assoziationen, die im utopischen Raum ein Höchstmaß an Entropie erstreben, Möglichkeiten zur Innovation und Evolution, da bereits Gedachtes weiter gedacht, bereits Geformtes neu geformt und bereits Definiertes neu definiert werden kann. Ebenso wie Leerstellen innerhalb eines Kunstwerkes bilden sie Projektionsflächen für die Betrachtenden und zugleich die Aufforderung zur Interaktion.
Das nicht vollends Determinierte, das Offene und Unsichere, das Entweder-oder und Sowohl-als-auch ist es, was diese Orte zu Möglichkeitsräumen macht. Sie sind das notwendige Atmen einer Stadt – eine „poetische Reserve“. Die Möglichkeit zur Gestaltung und Interaktion ist es, die sie für temporäre, informelle Nutzungen so interessant macht. Denn für eine Zeit sind sie es, die in der kreativen Aneignung den Charakter des Heute formen können.
Diese Orte zwischen Gestern und Morgen sind das Heute für ihre Benutzer_innen, denn sie schaffen die Möglichkeit, die Ideen von gestern aufzunehmen, sich ihrer „Symbolkräfte“ zu bedienen und dabei gleichzeitig aktiv gestaltend an städtischen Transformationsprozessen teilzunehmen. Durch das Recycling der vorhandenen Strukturen und die Auseinandersetzung mit Bestehendem gelingt es temporären Nutzer_innen oft, den genius loci zu entdecken und durch ihre Aktivitäten zu fördern. Wie es scheint, kann an solchen Orten der Begriff Urbanität gerettet und mit neuen Inhalten gefüllt werden kann.
Aber nicht nur die Dysfunktionalität der Leere, sondern die Temporalität selbst bedarf der Revision. Nahezu ausnahmslos wird die Zwischennutzung als „um zu“ gewertet und als teleologische Aneignung im Übergangsstadium betrachtet. Auch wenn nicht selten innovative Zwischennutzungen am Beginn einer etablierten und institutionalisierten Dauernutzung stehen – dieser Umstand trägt zweifelsohne auch zur Attraktivität der Zwischennutzungen bei –, so ist es dennoch wichtig, für die Temporalität an sich eine Lanze zu brechen: für Zwischennutzungen, die den Weg als Ziel begreifen, temporäre Nutzungen, deren zeitliche Begrenzung nicht das Diminuendo einer dauerhaften Nutzung, sondern essentielle Bedingung ihrer Existenz ist.
Die Temporalität darf nicht ausschließlich als pejorative Erscheinung begriffen werden, die sich tendenziell gegen die Temporalität selbst richtet. Andernfalls hat eine Temporalität, die sich als Mal begreift, sich zur paradoxen Aufgabe gesetzt, sich selbst zu überwinden. Dass viele temporäre Projekte, beispielsweise die „Off spaces“ der 1990er Jahre, beim Versuch sich zu institutionalisieren scheiterten, zeigt, dass gerade der zeitliche Faktor die conditio sine qua non des Erfolgs war.
Da die temporäre Nutzung vom Kontext und aktuellen Zustand ausgeht, sich mit dem bereits Gegebenen auseinandersetzt anstatt in die Ferne zu zielen, ist sie das Gegenteil des Masterplans. Oft erscheint sie als Paradigma eines partizipatorischen Planungsprozesses, weil sie regelmäßig über nur geringe Hürden verfügt und die Schwelle, eigene Unternehmungen zu wagen, deshalb extrem niedrig ist. Die Entwicklung in Form von „Bottom-up“-Prozessen bietet Raum für selbständige Gestaltung, Identifikation und Integration und kann deshalb auch als eine Form urbanen Empowerments betrachtet werden.
Mit temporären Nutzungsprojekten werden naturgemäß unterschiedliche Absichten verbunden: Die unmittelbarste begreift die Zwischennutzung schlicht als kostengünstige Alternative zum Leerstandsmanagement. Diese „Mängelverwaltung“, ein Service zur Wahrung der Objektqualität, wird bereits von verschiedenen Immobilienfirmen angeboten und umfasst regelmäßige Wartungsarbeiten wie beispielsweise Reinigung, Lüftung und Beheizung. Die Zwischennutzung erspart in diesem Falle die dafür anfallenden Kosten, für die es aufgrund des Mietausfalles keine entsprechenden Einnahmen gibt. Die mit den Zwischennutzungen oftmals einhergehende Vitalisierung wird zumindest im Anfangsstadium nur als erfreulicher Nebeneffekt bewertet.
Die Stimulierung von Innovationen wird hingegen von folgendem Ansatz beabsichtigt: Durch die Bereitstellung von kostengünstigen, temporär eingegrenzten (Frei-)Räumen wird erhofft, innovativen, kreativen und unkonventionellen Ideen eine erste Entwicklungsgrundlage zu geben und den Aufbau ökonomischer Ressourcen zu fördern.
Zwischennutzungen sind oft gerade durch ihre zeitliche Begrenzung definierte Nutzungen, d.h. vor allem solche, die ohne große Investitionen auskommen (müssen), Nutzungen, denen nur begrenzte (finanzielle) Mittel zur Verfügung stehen. Oft handelt es sich dabei um innovative, ökonomisch orientierte Unternehmungen, die aufgrund ihres neuartigen Charakters einer Nische zur Existenz bedürfen. Da es sich bei Zwischennutzungen in der Regel um Übergangslösungen handelt, sind die finanziellen Rahmenbedingungen zudem oft den Verhältnissen der Zwischennutzer_innen angepasst.
Dieser Ansatz betrachtet temporäre Nutzungen als Versuch, mittels eines Trial-and-Error-Prozesses innovative Strategien und Programme zu finden und verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten auszuloten ohne nennenswerte finanzielle Investitionen. In der Regel beschränken diese Nutzer sich nicht auf die Exploration des Heute, sondern begreifen es als Sprungbrett ins Morgen. Diese „Freiräume“ bieten Raum zum Experimentieren mit überkommenen Vorstellungen, Regelungen und Konformitäten. Nicht selten bilden sie die innovativen Keimzellen der zukünftigen Ökonomie.
Ein weiterer Ansatz schließlich ist mit dem Ziel einer Grundstücks- oder Stadtteilaufwertung von einer strikt ökonomischen Motivation geleitet – das Wort „Aufwertung“ ist hier so wertneutral wie möglich zu verstehen, lediglich als gebräuchliche Bezeichnung eines urbanen Wandlungsprozesses. Da Kunst aufgrund ihres Imagepotentials für Auf- und Umwertungszwecke geradezu prädestiniert ist, sind die temporären Nutzungen in diesem Kontext vor allem kultureller und künstlerischer Natur. Der Prozess kann als Produktion von symbolischem Kapital und dessen Umwandlung in ökonomisches beschrieben werden.
Wie Kunst das Sehen beeinflussen kann, indem sie die Wahrnehmung und damit das Wahrnehmbare verändert, kann sie auch Unsichtbares sichtbar machen. So kann Kunst Leerstellen, die im Raum zwischen Gestern und Morgen stecken geblieben sind, im Heute ans Licht, „back on the mental map“ bringen. So kann Kunst vergessene Orte, Tabuzonen und stadträumliche Nischen wieder entdecken, indem sie sie auf dem Wege der Transformation sichtbar macht – ein kreatives „Reframing“. Nicht nur erfährt der Ort durch den Imagetransfer eine Umwertung. Die Neudefinition mittels künstlerischer Medien führt über Veränderungen der „inneren Landkarte“ zu einem Wandel ohne Veränderung von Tatsachen. Dadurch kann es gelingen, die Brache nicht nur wieder in das städtebauliche Gefüge einzugliedern, sondern mehr noch, ihr einen exponierten Status zukommen zu lassen.
Das in der Gesamtschau beinahe schon sprichwörtliche Nomadentum von Künstler_innen auf der Suche nach günstigen Wohn- und Arbeitsräumen macht sie, gewollt oder ungewollt, zum Paradigma der temporären Nutzer_innen. Mit der Verbindung von temporärer Nutzung und Künstler_innen wird aus der Not, so könnte man sagen, eine Tugend gemacht. Vor allem aber wird nicht marktkonformen, unkommerziellen kulturellen Aktivitäten eine Chance zur Existenz geboten.
Natürlich beschränkt sich Kunst zu Aufwertungszwecken nicht allein auf temporäre Nutzungen. Es kann von großer Bedeutung sein, die künstlerischen Nutzungen dauerhaft zu etablieren, um über die Entdeckung des Genius Loci hinaus diesen langfristig zu erhalten. Gerade in Fällen, in denen mangels Siedlungs- und ökonomischen Druck Aufwertungsprozesse nur schwer in Gang kommen, kann es von entscheidendem Vorteil sein, der Trägheit des menschlichen Gedächtnisses und der Flüchtigkeit von Images entgegenzuwirken, indem künstlerische und kulturelle Nutzungen permanent eingerichtet werden.
Künstler_innen nun als Katalysator_innen von Gentrification zu geißeln, ignoriert die Komplexität von Zwischennutzungen und ihren Akteur_innen. Unzählige künstlerische Zwischennutzungen kamen und gingen wieder, ohne dass es irgendjemanden interessiert hätte. Bei entsprechendem ökonomischen Druck können Zwischennutzer_innen sehr wohl Aufwertungsprozesse beschleunigen, bei sehr hohem Druck allerdings tatsächlich auch verlangsamen.
Bettina Springer ist studierte Juristin und Kulturmanagerin und hat lange Jahre als Kuratorin und Stadtforscherin gearbeitet. Zur Zeit ist sie als Unternehmerin tätig.