Postkoloniale Relektüren künstlerischer Arbeiten

Georg Baselitz malte Ende der 1950er Jahre Bilder von „Orientalen“. Michael Buthe, Joseph Beuys und Rebecca Horn entwarfen in den 1970ern „individuelle Mythologien“ und griffen dabei auf exotistische Fantasien zurück. Nikolaus Lang setzte sich Mitte der 1980er mit der Geschichte eines Aborigines auseinander. Zeitgleich kritisierte Hans Haacke die Ausbeutung schwarzer Arbeiter_innen im südafrikanischen Apartheidregime und Künstler_innen der „Neuen Wilden“ porträtierten sich selbst als „Indianer“ oder „schwarze Venus“. Die Liste dieser Beispiele künstlerischer Arbeiten von weißen und mittlerweile namhaften Künstler_innen, die Darstellungen der/s Anderen beinhalten, ließe sich noch lang erweitern. Alle genannten Arbeiten entstanden vor 1990 und damit vor dem Zeitpunkt, ab dem postkoloniale Theorien im deutschsprachigen Kunstfeld diskutiert werden. Seither ist kulturelle, ethnisierte oder rassisierte Differenz ein zunehmend offensiv sowie kritisch verhandeltes Thema geworden. Arbeiten wie die eingangs genannten bleiben von den postkolonialen Diskussionen jedoch meist ausgeschlossen, werden aber in Museen, Ausstellungen und Katalogen nach wie vor zu sehen gegeben. Gerade weil sie bis heute präsent sind und Vorstellungen vom Anderen bzw. von Differenzen weiterhin prägen, gilt es, sie in eine auf Dekolonisierung der westlichen Kultur ausgerichtete Perspektive einzubeziehen und sie einer postkolonialen Relektüre zu unterziehen.

Es waren vor allem schwarze Aktivist_innen, Künstler_innen und Theoretiker_innen, die aufzeigten, dass jegliche Darstellungen von Eigenem und Anderem wesentlich an der Konstitution und Aufrechterhaltung von rassistischen Machtverhältnissen beteiligt sind (im deutschsprachigen Raum z.B. Oguntoye u.a. 1986). Aus dieser Tradition machtkritischer Positionierungen formierte sich der theoretische Diskurs des Postkolonialismus, der vor ca. 25 Jahren auch hierzulande in den akademischen und künstlerischen Diskurs einging. Eine wesentliche Erkenntnis postkolonialer Theorien ist, dass Repräsentationen von denen, die als anders gelten, diese nicht einfach nur wiedergeben oder abbilden, sondern Kategorien des/r Anderen überhaupt erst mit herstellen. Als solche sind Visualisierungen von rassisierter, ethnisierter oder kultureller Differenz an der Aufrechterhaltung von Gewalt- und Herrschaftsstrukturen beteiligt, können diese aber auch in Bewegung bringen. Nicht allein abwertende Darstellungen, sondern vor allem die Fest- und Fortschreibung auf bestimmte Eigenarten sind von postkolonialen Theoretiker_innen als Stereotype benannt und als eine wesentliche Komponente in der Hierarchisierung von Subjekten aufgrund von Herkunft, Hautfarbe, Kultur etc. ausgewiesen worden (Stuart Hall 1997). Ambivalenzen gegenüber dem/r Anderen, die zwischen Bewunderung und Begehren einerseits und Abwehr sowie Verachtung andererseits changieren, konnten als zentrales Charakteristikum des kolonialen Diskurses entlarvt werden (Bhabha 1994). Toni Morrison konstatierte, dass jegliche Darstellungen des/r Anderen immer reflexiv sind, das heißt, dass sie ein Selbst vor der Folie eines Bildes vom Anderen entwerfen (Morrison 1992). Von Weißen hergestellte Bilder außereuropäischer Gesellschaften, von „Indianern“, Schwarzen, usw. bieten insofern die Gelegenheit eigentlich eigenes, wie die eigene Sexualität, das eigene Geschlecht, aber auch ein in der Welt sein, zum Beispiel Künstler_in sein, die eigene politische Positionierung und vieles mehr zu verhandeln. Insofern sagen Repräsentationen des/r Anderen immer mehr über ihre Produzent_innen und die von ihnen adressierten Rezipient_innen aus, als über ihre vermeintlichen Referent_innen.

Die eingangs vorgenommene skizzenhafte Aufzählung macht bereits deutlich, dass die/der Andere in diesen Arbeiten als Projektionsfläche für versteckte Sehnsüchte oder als faszinierendes Beispiel für Widerständigkeit fungiert, dass sie/er aber durchaus auch als Subjekt in vergessenen oder zeitgenössischen Machtstrukturen thematisiert wird. Postkoloniale Relektüren gehen diesen Formen der Verhandlung von Differenz weiter nach. Der Begriff der Relektüre betont eine methodische Vorgehensweise, die von einem postkolonialen Standpunkt aus künstlerische Arbeiten auf ihre immer kontextabhängigen Bedeutungsproduktionen hinsichtlich der Konstruktion von Differenz befragt. Bereits vorhandene Besprechungen gilt es dabei nicht einfach zu ergänzen oder zu revidieren, sondern als beteiligt an den Signifikationsprozessen mit in die Analyse einzubeziehen (vgl. Schade und Wenk 2005: 148). Die Kunstgeschichtsschreibung wird innerhalb einer solchen Ausrichtung mit befragt. Auf Basis der Erkenntnisse postkolonialer Forschung und Theorie zu kolonialen Erzählmustern, Bild- und Blickstrukturen lässt sich diskutieren, wie genau Differenz dargestellt und mitkonstituiert wird. Nicht die Intentionen der Künstler_innen oder biographisch argumentierende Erläuterungen sind hier von Interesse, sondern gefragt wird, wer zu welcher Zeit überhaupt als Andere/r gilt und wie, d.h. mit welchen Codes und Symbolen, die Figuren dargestellt sind. Eine Relektüre von Kunst aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum macht beispiels- weise deutlich, dass überwiegend Schwarze, sog. „Indianer“, aber auch Figuren und Orte verbildlicht wurden, die als „dem Osten“ zugehörig gelten (z.B. Beuys Schamaneninszenierung, orientalisierte Rauminstallationen von Buthe). Dabei knüpfen viele Repräsentationen an tradierte Motivformationen an und transformieren sie lediglich in eine veränderte aktuelle Ästhetik und formale Darstellungsweise, wodurch rassistische Stereotype weiter fortgeschrieben werden.

Aufschlussreich sind analytische Überlegungen, welche Rollen und Funktionen dem/der Anderen in diesen Arbeiten zu kommen, für was sie stehen und wie sie von weißen Künstler_innen ins Verhältnis gesetzt werden zu sich selbst oder/und zu der eigenen Kultur und Gesellschaft. Eine wesentliche Strategie scheint gerade bei deutschen Künstler_innen in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg gewesen zu sein, sich mit der/m Anderen zu identifizieren – darüber konnte man sich vom eigenen Land, als dem Land der Täter, distanzieren. Einher geht diese In-Eins-Setzung mit dem modernen Mythos vom gesellschaftlich marginalisierten Künstler (der Mythos ist männlich), dem ein gewisses Rebellentum anhaftet. Generell wird die/der Andere als Metapher für Widerständigkeit – eine Tradition, die bis ins 19. Jahrhundert zurück reicht – ab den 1950ern vielfach reproduziert und scheint nach der Diffamierung von „entarteter“ Kunst im Nationalsozialismus sowie während diverse Staaten und Völker um ihre Unabhängigkeit von Europa kämpften, besonders attraktiv gewesen zu sein. Ähnlich wie im Primitivismus um 1900 birgt die Figur, aber auch der Ort der/s Anderen, das Versprechen, eigenen Normen und Konventionen entkommen und etwas entgegensetzen zu können sowie in ihnen Vorbilder für Kunst, politische Ambitionen oder Lebensentwürfe zu finden. Auch feministisch ambitionierte Künstler_innen sahen in anderen Kulturen zuweilen die Möglichkeit für emanzipative Lebensformen und Bündnispolitiken, wiederholten dabei jedoch zuweilen exotisierende Bildmotive und Blickstrukturen.
Es lassen sich jedoch auch eine Reihe von künstlerischen Positionen ausfindig machen, die den Repräsentationen und medialen Vermittlungen von denen, die als different gelten, skeptisch gegenüber stehen. Hierarchisierende Verhältnissetzungen zwischen Eigenem und Anderem wurden durchaus schon vor den 1990er Jahren problematisiert (z.B. in dem oben genannten Zeitraum von Lothar Baumgarten und Sigmar Polke). Ein differenzierter Blick kann deutlich machen, dass auch weiße Künstler_innen immer wieder Interesse an anti-hegemonialen Bewegungen und gegen Kolonisierung gerichtete Kämpfe hatten bzw. mit deren Akteur_innen im Austausch standen. Die Proteste gegen jegliche Dominanzverhältnisse, wie sie seit Langem von verschiedenen Aktivist_innen und Intellektuellen of Color formuliert wurden und werden, hatten durchaus ihre Effekte auf Kunst und Kultur der westlichen Metropolen. Das nicht zu benennen und zu diskutieren, hieße diese Widerstände und ihre Auswirkungen abermals unsichtbar zu machen. Dabei geht es nicht darum, künstlerische Arbeiten, die von hegemonialen Positionen aus erstellt wurden, im Nachhinein als entweder postkolonial oder als Fortschreibung von stereotypen Repräsentationen zu markieren (oft sind sie beides zugleich). Vielmehr gilt es, aufmerksam zu sein für die Einsprüche in dominante Diskurse, zu schauen, wo Repräsentationen hegemoniale Verhältnissetzungen nicht nur stützen, sondern ihnen auch entgleiten, gestört werden, oder sich gegen sie wenden. Dafür ist es nötig die Arbeiten in ihren jeweiligen Kontexten zu lesen und nicht allein aufgrund von bestimmten Begriffen, Bildern oder Blickführungen zu kritisieren. Offensichtlich wird dabei, dass auch kritische, reflektierte Verhandlungen nicht widerspruchslos oder gänzlich frei von jeglichen Spuren vorgängiger Auseinandersetzungen sind und vermutlich nie sein werden. Diese Ambivalenzen gilt es in machtkritischen Analysen differenziert zu benennen und aufzuzeigen, aus welchen historischen Konstellationen und Konflikten sie sich ergeben – ohne zu behaupten, dass die eigenen Lektüren die einzig gültigen wären.


Kea Wienand ist Kunstwissenschaftlerin, sie lehrt und arbeitet zu Gegenwartskunst, feministischer und postkolonialer Theorie am Institut für Kunst und visuelle Kultur der C. v. Ossietzky-Universität Oldenburg. 2015 erschien von ihr Nach dem Primitivismus? Künstlerische Verhandlungen kultureller Differenz in der Bundesrepublik Deutschland, 1960-1990. Eine postkoloniale Relektüre im Transcript Verlag.


Literatur

Homi K. Bhabha: The location of culture. New York 1994: Routledge.

Stuart Hall: The Spectacle of the ‘Other’, in: Ders. (Hg.): Cultural Representations and Signifying Practices. London 1997: Sage, S. 223–289.

Toni Morrison: Playing in the Dark. Whiteness and the Literary Imagination. Cambridge 1992: Harvard UP.

Katharina Oguntoye/May Opitz/Dagmar Schultz (Hg.): Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte. Berlin 1986: Orlanda.

Sigrid Schade/Silke Wenk: Strategien des Zu-Sehen-Gebens. Geschlechter – positionen in Kunst und Kunstgeschichte. In: Hadumond Bußmann/Renate Hof (Hg.): Genus. Gender Studies in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Stuttgart 2005: Kröner, S. 302 – 342.