Wenn es um den Mittelmeerraum geht, dominiert in Westeuropa das „Blickregime des Reisens”, schreibt Marion von Osten (2007). Zu Zeiten der „Gastarbeitermigration“ habe sich hierzulande die Vorstellung vom hoffnungslos unterentwickelten Süden Europas durchgesetzt, der die „Gastarbeiter_innen“ in den reichen Norden trieb und eine Kontrastfolie bot, die den eigenen beginnenden Wohlstand umso deutlicher erscheinen ließ. Neben den Attraktionen Sonne und Meer war es genau diese Vorstellung von Rückständigkeit, die – umgedeutet in Tradition, Ursprünglichkeit und Naturnähe – den Mittelmeerraum auch für den touristischen Konsum attraktiv machte.
Gegenwärtig – im postfordistischen Migrationsregime – sind es wieder Bilder aus dem Mittelmeerraum, die das Migrationsgeschehen in Europa repräsentieren. Nun liegt der Fokus auf verzweifelten Flüchtlingen und illegalisierten Migrant_innen, die das Mittelmeer unter Einsatz ihres Lebens überqueren, um in die „Festung Europa“ zu gelangen. Während die kerneuropäischen Länder die Flüchtlingsproblematik an die Länder der Peripherie delegiert haben, sehen sich diese damit allein gelassen und überfordert. Ihr mangelhafter Umgang mit den Flüchtlingen lässt die Länder einmal mehr als rückständig erscheinen.
In den aktuellen medialen Repräsentationen des Mittelmeerraums wird das „koloniale Narrativ … eines Territoriums von Unterentwickelten“ (ebd.: 179) jedoch nicht nur in Bezug auf das Migrationsgeschehen, sondern auch in Bezug auf die Auswirkungen der Finanzkrise fortgeschrieben. So wirft die populistische BILD-Zeitung „den Griechen” Ende 2011 beispielsweise Kapitalflucht, Korruption und eine nicht-funktionierende Verwaltung vor und reduziert damit die komplexen internationalen Ursachen dafür, dass die Auswirkungen der europäischen Finanzkrise den Süden Europas besonders hart treffen, auf marode Strukturen im Land selbst. Die erneute Projektion von Rückständigkeit infolge der Finanzkrise macht Griechenland für einige Reisende jedoch auch wieder als Urlaubsziel interessant, wobei die Tourist_innen aus dem vergleichsweise reichen Norden Europas (der teilweise von der Finanzkrise profitiert) sich als Entwicklungshelfer_innen fühlen können: „Ein wenig Gyros hier, ein Ouzo da: Viele Touristen wollen dem klammen Griechenland mit ihrem Reisebudget unter die Arme greifen”, titelt das Handelsblatt im Juli 2013.
Nach wie vor ist es also in Traditionalität umgedeutete Rückständigkeit, die Griechenland und andere südeuropäische Länder touristisch interessant macht. Dementsprechend wird der Mittelmeerraum noch immer touristisch vermarktet. Dabei greifen allerdings nicht nur Reisekonzerne und Tourismusbehörden mit groß angelegten Werbekampagnen und gezielten Investitionen machtvoll in die Lenkung des touristischen Blicks ein. Alle Beteiligten – auch Tourist_in- nen und Migrant_innen selbst – wirken affirmativ oder subversiv an den touristischen Repräsentationen mit.
Begegnungen
In den Wahrnehmungen und Repräsentationen der Tourist_innen scheint die Anwesenheit von Migrant_innen kaum eine Rolle zu spielen. Für manche schmälert sie jedoch das Differenzerlebnis: Ein Deutscher, der Kreta als Tourist kennen lernte und dann auswanderte, schwärmte mir gegenüber von der Ursprünglichkeit der Insel und betonte seine eigene Integration in die Lokalgesellschaft. Die albanischen Einwander_innen waren für ihn ein lästiges Ärgernis. „Die Griechen mögen die Albaner nicht“, meinte er und übernahm diese Haltung in seinem Assimilationsbedürfnis. Eine belgische Touristin bedauerte es, dass das Personal häufig nicht griechisch war, meinte damit aber vor allem Westeuropäer_innen. Gegen albanisches Personal hatte sie nichts einzuwenden, da die Albaner_innen sich in ihren Augen optisch nicht von den Griech_innen unterschieden und daher ihren touristischen Differenzkonsum nicht beeinträchtigten.
Die Möglichkeiten, den eigenen migrantischen Hintergrund zu verbergen, die der Tourismus bietet, begreifen einige Migrant_innen als Chance. Einerseits machen sie sich unsichtbar, um den touristischen Imaginationen von griechischer Kultur zu entsprechen, andererseits entziehen sie sich mit transnationalen Kompetenzen und Praktiken der Zurichtung durch den touristischen Blick. Zum Beispiel Alban: Alban kam Anfang der 1990er Jahre von Albanien nach Griechenland, zu Fuß über die Berge. In Piräus mischte er sich unter eine Gruppe von Tourist_innen und gelangte so unbemerkt auf ein Schiff nach Kreta. Nach einigen anstrengenden Jobs als Bauarbeiter fand Alban Arbeit als Hilfskellner in einer griechischen Taverne. Dort arbeitet er jetzt seit über sieben Jahren. Fragen Gäste, wo er herkommt, behauptet er meist, er sei Einheimischer, um die Erwartung der Gäste nicht zu enttäuschen. Sind die Gäste selbst Griech_innen und leben im Norden Griechenlands, behauptet er, er sei Kreter. Und wenn es Kreter_innen sind, die fragen, antwortet Alban, er komme aus Nordgriechenland. Das gefalle den Tourist_innen und sei gut fürs Geschäft. Wenn er alleinreisenden Touristinnen imponieren möchte, gibt er sich auch schon mal als Halbitaliener aus …
Die Arbeitssituation in einer Tourismusregion erfordert, aber ermöglicht gleichzeitig auch das Spiel mit verschiedenen Rollen, Identitätszuschreibungen und Mobilitätskategorien. Die benachteiligte Position im europäischen Mobilitätsregime bringt in diesem Zusammenhang nicht nur überlebensnotwendige Taktiken im Umgang mit Mobilitätskategorien hervor, sondern kann auch eine strategisch günstige Ausgangsposition beim Spiel mit Identitätszuschreibungen sein, von der aus sich hierarchische Differenzmarkierungen geschickt aneignen und profitabel einsetzen lassen. Vorzugeben, er sei „Tourist“, ermöglichte es Alban, der zu diesem Zeitpunkt „illegal“ war, innerhalb Griechenlands unbemerkt mobil zu sein. Im ständigen Kontakt mit Tourist_innen hat er sich dann schnell das Wissen angeeignet, für jede Kundin und jeden Kunden die entsprechende nationale oder regionale Zugehörigkeit vorzutäuschen. Angesichts weitverbreiteter rassistischer Ressentiments gegen Albaner_innen in Griechenland hat sich für ihn die Behauptung, Grieche zu sein, gegenüber griechischen Tourist_ innen bewährt. Auch gegenüber west- und nordeuropäischen Tourist_innen, die in ihrem Urlaub den Kontakt mit „echten“ Griech_innen suchen, kann er diese Rolle gewinnbringend einsetzen. Darüber hinaus verfügt er über Kompetenzen, sich die mediterranisierenden und exotisierenden Männlichkeitsvorstellungen weiblicher Tourist_innen zu Nutze zu machen.
Ähnlich wie Alban und viele andere nimmt auch Renata von Zeit zu Zeit die Mobilitätskategorie „Touristin“ an, um als Arbeitsmigrantin innerhalb der Europäischen Union mobil sein zu können. Renata ist Serbin. 1993 kam sie zum ersten Mal nach Griechenland. In dem Sommer, in dem wir uns getroffen haben, arbeitete sie in der Küche eines der zahlreichen Cafés an der touristischen Strandpromenade einer Stadt im Norden Kretas. Im Winter, wenn nur wenige Tourist_innen auf der Insel sind und es kaum Arbeitsmöglichkeiten gibt, wird Renata dann selbst zur „Touristin“. In den letzten Jahren ist sie immer wieder für einige Monate mit einem Touristenvisum nach Deutschland gereist und hat im Rhein-Main-Gebiet als Putzfrau oder Küchenhilfe gearbeitet, unter anderem in einer der griechischen Tavernen, in der die deutschen Griechenlandurlauber_innen ihre Urlaubserinnerungen aufwärmen.
Linda Basch, Nina Glick Schiller und Cristina Szanton Blanc (1997) analysieren die zunehmend mobil und „mehrortig“ werdenden Migrationsstrategien einerseits als Antworten auf die immer begrenzteren Möglichkeiten, sozio-ökonomische Grundbedürfnisse an nur einem Ort zu befriedigen und andererseits als Reaktion auf die immer restriktiveren nationalen Migrationspolitiken westlicher Industrienationen. Renatas Migrationsstrategie ist beispielhaft für diese Entwicklung. Die Befriedigung ihrer sozio-ökonomischen Grundbedürfnisse ist für sie an nur einem Ort nicht möglich. Deshalb pendelt sie zwischen Serbien, Griechenland und Deutschland. Da das europäische Mobilitätsregime ihr keine legale innereuropäische Mobilität als Arbeitsmigrantin ermöglicht, muss sie ihre offizielle Mobilitätskategorie bei jedem Grenzübertritt wechseln. Wenn sie nach Griechenland kommt, ist sie eine Arbeitsmigrantin mit beschränkten Arbeitsund Aufenthaltsmöglichkeiten. Wenn sie nach Deutschland kommt, wird sie zur „Touristin“, die illegal arbeitet.
Ähnlich transnational gestaltet sich der Arbeits- und Lebensraum Europa auch für Dardan. Dardan ist Albaner, aber in Griechenland hält man ihn meist für einen Griechen. Er spricht fließend Griechisch, außerdem Englisch und Norwegisch und versteht Schwedisch, was ihm bei seiner Arbeit mit Tourist_innen häufig zunutze kommt. Dardan jobbt den Sommer über auf Kreta bei einem Wassersportanbieter. Von den meisten Tourist_innen wird er nicht als Albaner erkannt. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, lässt er Tourist_ innen seine Nationalität erraten. Viele sind überrascht, wenn er sie schließlich preisgibt. Manchmal hat er den Eindruck, die Tourist_innen würden von Reiseleiter_innen und Rezeptionist_innen vor Albanern gewarnt und seien daher erstaunt, wenn ein so netter Kerl wie er sich dann als Albaner entpuppe. Den Winter über lebt Dardan in Norwegen. Er hat vor, dort bald eine Ausbildung zum Polizisten zu beginnen. Dafür sieht er sich aufgrund seiner Tätigkeit im Tourismus auf Kreta bestens vorbereitet. Die vielfältigen Kontakte zu Menschen aus verschiedenen Kulturen, die sein Job auf Kreta mit sich bringe, qualifizierten ihn hervorragend für den polizeilichen Umgang mit den Problemen der multikulturellen Gesellschaft Norwegens, meint er.
Er schreibt sich hier in den Multikulturalismus ein, der aus der Perspektive des europäischen Zentrums um Anerkennung und Aufwertung der Differenzen der Anderen bemüht war. Mit der Vorstellung vom friedlichen Nebeneinander der Kulturen in den westeuropäischen Einwanderungsgesellschaften wurde damit nicht nur ein Konzept homogener Ethnizität fortgeführt, sondern gleichzeitig eine Multikulti-Idylle etabliert, die zu Paternalismus neigte und über ökonomische und rechtliche Unterschiede hinwegtäuschte. Die eigene Gesellschaft konnte als multikulturell aufgewertet werden, brauchte dazu aber die monokulturellen Herkunftsgesellschaften der so genannten „Gastarbeiter_innen“, die als solche auch touristisch konsumierbar waren. Ironisch daher letztlich das Einschreiben in den multikulturalistischen Diskurs durch den Saisonarbeiter, der als Albaner zu denen gehört, vor denen Tourist_innen an Hotelrezeptionen im Süden Europas gewarnt werden, und der aufgrund seiner Erfahrungen mit Tourist_innen aus unterschiedlichen Kulturen als Polizist die Probleme der multikulturellen Gesellschaft Norwegens lösen helfen will. Wenn man möchte, kann man in ihm einen „postkolonialen Eulenspiegel“ (Ha 2004, 150) sehen, der den hegemonialen Diskurs durch Persiflage herausfordert.
Schluss
Indem sie eine Mobilitätskategorie für sich in Anspruch nehmen, die das Grenzregime für sie nicht vorsieht, erschweren Migrant_innen die Registrierung und Kontrolle ihrer Mobilität durch das Migrationsregime mit seinen Technologien der Sichtbarmachung und Quantifizierung. Sie verweigern Differenzmarkierungen, die eine sichtbare und eindeutige Verbindung zwischen der Person und ihrer Herkunft, ihrem Körper und ihrer Identität herstellen. Man kann sie als Transmigrant_innen oder auch Kosmopolit_innen (Pécoud 2000) bezeichnen, da sie mit dem Grenzregime umzugehen wissen und über eine Art „strategische Transkulturalität“ (Pütz 2004, 28) verfügen, die ihnen die Möglichkeit gibt, sich reflexiv in verschiedenen Symbolsystemen zu orientieren und die Unsichtbarkeiten zu nutzen, die der touristische Blick auf den Mittelmeerraum produziert.
Es ist nun möglich, diese Strategie als internalisierten Kolonialismus/ Rassismus oder simple Überlebensstrategie zu deuten (vgl. Ha 2004, 148) oder aber im Sinne von Mimikry. „Mimikry ist eine Form der strategischen Kriegsführung für Unterlegene, die die Ambivalenz des kolonialen Diskurses zur Alltagslist der Irreführung, Täuschung und Tarnung für sich ausnutzen. Sie ist ein intimes Wissen, das trotz aller systematischen Ausschlüsse von der unvermeidlichen Nähe und Innigkeit mit dem vertrauten Feind in der kolonialen Situation zeugt und sich nun gegen den Kolonialisierer selbst, den Hüter des Wissens und der Rationalität, wendet“, schreibt Kien Nghi Ha (ebd.) in Anlehnung an Homi K. Bhabha. Übertragen auf das gegenwärtige Migrationsregime nutzen Migrant_innen wie Dardan, Renata und Alban die Unsichtbarkeiten, die das touristische Blickregime produziert, als Spielraum für Mimikry. Die Praxis der Mimikry ist dabei weder als simple Überlebensstrategie noch als kreative Persiflage hegemonialer Identitätskonzepte hinreichend erfasst. Die kulturellen Differenzmarkierungen, die hierbei imitiert werden, sind nicht einfach nur unschuldige Beschreibungen verschiedener, objektiv beobachtbarer Identitätskategorien, sondern Versuche, die Wirklichkeit entlang dieser Kategorien zu regieren. Insofern Migrant_innen machtvolle Figuren des gegenwärtigen europäischen Mobilitätsregimes wie „echter Grieche“, „Touristin“ oder auch „Asylbewerber” durch Mimikry bedienen und sich unter Verdrehung der Perspektive in mehrheitsgesellschaftliche Identitätsdiskurse einschreiben, imitieren sie nicht einfach Identitätszuschreibungen, sondern durchkreuzen migrationspolitisch wirksame Ordnungskategorien und Sichtbarmachungsstrategien.
Ramona Lenz ist Buchhändlerin, Kulturanthropologin und vieles mehr. Derzeit arbeitet sie in der Öffentlichkeitsabteilung einer Menschenrechtsorganisation in Frankfurt am Main. Ihre Dissertation mit dem Titel Mobilitäten in Europa. Migration und Tourismus auf Kreta und Zypern im Kontext des europäischen Grenzregimes erschien 2010 im VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Literatur
Linda Basch, Nina Glick Schiller and Cristina Szanton Blanc (1997): From Immigrant to Transmigrant: Theorizing Transnational Migration, in: Ludger Pries (Hg.): Transnationale Migration. Baden-Baden, 121–140
Nien Nghi Ha (2004): Ethnizität und Migration Reloaded. Kulturelle Identität, Differenz und Hybridität im postkolonialen Diskurs, Berlin.
Marion von Osten (2007): Eine Bewegung der Zukunft. Die Bedeutung des Bilckregimes der Migration für die Produktion der Ausstelllung Projekt Migration. In: Transit Migration Forschungsgruppe (Hg.): Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas, Bielefeld, 169–185.
Antoine Pécoud (2000): Cosmopolitanism and Business. Entrepreneurship and Identity among German-Turks in Berlin. WPTC-2K-05 at: http://www.transcomm.ox.ac.uk/working%20papers/pecoud.pdf
Robert Pütz (2004): Transkulturalität als Praxis. Unternehmer türkischer Herkunft in Berlin, Bielefeld.