Vor dem Hintergrund des demographischen Wandels und auch in Hinblick auf die weiterhin nicht eingelöste Geschlechtergerechtigkeit müssen wir uns fragen, ob unsere Gesellschaft den richtigen Umgang mit dem Älterwerden hat. Denn wir werden zunehmend auf die geistig-intellektuelle Kraft älterer Menschen in Wirtschaft und Gesellschaft angewiesen sein. Passt dies zu unserem weitgehend undifferenzierten und marktgetriebenen Altersbild? In diesem Beitrag wird das Älterwerden sowohl aus wissenschaftlicher Sicht als auch aus der von Kulturschaffenden in Augenschein genommen. Grundlage sind Interviews mit Künstlerinnen Künstlern, die zwischen 50 und 85 Jahren waren und in verschieden Kultursparten beheimatet sind: der Bildenden Kunst, dem Kabarett, den Medien und dem Tanz.1
Älter zu werden als Kulturschaffende ist immer dann eine ganz besondere Herausforderung, wenn die Person in ihrer ganzen körperlichen Erscheinung untrennbar mit ihrer Kunst in Verbindung steht, beispielsweise als Schauspielerin, Sängerin, Moderatorin oder Kabarettistin. Natürlich gilt dieses Phänomen auch für Männer, aber Frauen trifft es umso früher und umso härter. Warum?
Um dieses Phänomen differenziert zu betrachten, muss man verstehen, dass der Prozess des Alterns kein rein natürlich ablaufendes, biologisches Programm ist, sondern auch ein aktiv gestaltbares, konstruiertes und somit „gemachtes“ Geschehen. Altern ist ein individuell-körperlicher Prozess und zugleich sozial konstruiert. Der Tanzhistoriker Professor Ramsey Burt beschreibt diese Diskrepanz so: „Das gefühlte Alter kann durch die Wahrnehmung der Gesellschaft beeinflusst werden. Aus diesem Grund gibt es nicht selten eine Diskrepanz zwischen der Selbstwahrnehmung des Alters und der gesellschaftlich konstruierten Vorstellung davon, was es bedeutet, alt zu sein. Gesellschaftlicher Druck zwingt einen dazu, sich selbst dem eigenen Alter angemessen wahrzunehmen.“
Die Wissenschaft nutzt hier den Begriff des „Doing Aging“. Er impliziert, dass die Gesellschaft unser Bild vom Älterwerden bestimmt. Und hierher rührt das größere Problem von Frauen, weil ihr Alter zu einem viel früheren Zeitpunkt sozial herabgewürdigt wird als das von Männern. Zudem ist das Altern von Männern mit vielen positiven Zuschreibungen verbunden wie Reife, Erfahrung, Autorität oder Weisheit – Zuschreibungen, die es für Frauen im beruflichen Kontext so ausgeprägt nicht gibt. Von diesem Phänomen berichtet auch die Journalistin und Publizistin Bascha Mika: „Männer dürfen altern und gelten dann noch als attraktiv. Frauen werden alt gemacht. Diese mangelnde Attraktivität, die ihnen angehängt wird, führt dazu, dass auch die Wahrnehmung im öffentlichen Raum nachlässt.“ Mika empfiehlt, dass sich Frauen hiergegen aktiv und laut zur Wehr setzen müssten.
Aber warum fällt dieser Widerstand Frauen so schwer? Die zunehmende Verunsicherung, die nicht nur Frauen vor der Kamera, sondern auch andere Kulturschaffende und normale Bürgerinnen betrifft, lässt sich darauf zurückführen, dass wir das Wertesystem der Leistungsgesellschaft geradezu sklavisch verinnerlichen. Wir haben Angst, in gesellschaftlicher Hinsicht nicht zu genügen, ohne uns darüber Gedanken zu machen, ob dieses Wertesystem überhaupt erstrebenswert ist und die damit verbundenen Ideale einzulösen sind.
„Der Leistungsanspruch der Gesellschaft an unsere Körperlichkeit lautet: Attraktivität, Fitness, Sexyness“, schreibt der Psychologe Dr. Christoph Ahlers in seinem Buch Himmel auf Erden & Hölle im Kopf. Diese Maxime bestimmt die Gesellschaft in dominanter Weise. Bereits in der Pubertät beginnen wir – Jungs wie Mädchen – diese Werte zu verinnerlichen. Zunächst noch trägt uns die Jugend, die das Einlösen erleichtert. Aber bis zur Lebensmitte greifen wir auf immer extremere Kompensationsmöglichkeiten in Form von Kosmetika, Fitness bis hin zu Schönheits-OPs zurück.
Was heißt „to fit“ doch noch? „Passend“ – nicht gesund, nicht lebendig, nicht authentisch oder selbstbewusst. Es geht um Normierung, wie Ahlers richtig beobachtet: „Wir kompensieren unsere Angst, nicht zu genügen, indem wir Hand anlegen: Muskeln definieren, Fehlstellen ausmerzen, Hügel glätten. Es muss besser sein, als es ist. Denn so wie wir sind, sind wir nicht okay.“ Diese Kompensationsmöglichkeiten werden uns von diversen Industriezweigen suggeriert – frei nach dem Motto: Nichts ist unmöglich!
Schleichend gesellt sich auf diese Weise zu dem gesellschaftlichen Leistungsdruck ein ansteckender Optimierungskult: Der Trend, den eigenen Körper nicht nur zu gestalten, sondern zu verbessern und zu perfektionieren, weil er als unzureichend angesehen wird. Diese Beobachtung von Ahlers deckt sich eins-zu-eins mit den Erlebnissen der Kabarettistin Gerburg Jahnke, wenn sie die grassierende Selbstoptimierung beklagt: „Alle möglichen Kolleginnen fragen sich bereits: Kann ich mit diesem Originalgesicht überhaupt noch rausgehen?“ Außenanforderungen sind in unser Innerstes gedrungen und führen wiederum dazu, unser Äußeres zu optimieren – bis hin zur persönlichen Selbstaufgabe.
Das Problem für die älter werdenden Künstlerinnen und Künstler ist, dass sie im Rampenlicht der Öffentlichkeit stehen. Selbst wenn sie mit dem Alterungsprozess persönlich eigentlich klarkommen, sich gut fühlen und ein ausgeprägtes Selbstwertgefühl haben, knickt ihr Marktwert ein, weil die Gesetzmäßigkeiten der Medien andere sind. Der Bombardierung durch Idealbilder auf allen Kanälen können sie kaum standhalten.
Dass tatsächlich von einer Bombardierung gesprochen werden kann, wird deutlich, wenn man sich die Studien von Professorin Elisabeth Prommer von der Universität Rostock vergegenwärtigt. Sie untersucht die weiblichen und männlichen Geschlechterdarstellungen im deutschen Fernsehen und Kino auf der Grundlage von über 3.000 Stunden TV-Programm und 800 deutschsprachigen Kinofilmen aus sechs Jahren. „Audiovisuelle Diversität?“, so der Titel. Nein, diese lässt sich nicht aus
findig machen, denn über alle Fernsehprogramme hinweg kommen auf eine Frau zwei Männer, klammert man Telenovelas und Daily Soaps einmal aus, die als einzige repräsentativ für die Geschlechterverteilung in Deutschland sind.
Mal abgesehen davon, dass ein Drittel der Programme ganz ohne weibliche Protagonistinnen auskommt – umgekehrt sind es nur 15 Prozent – und Frauen, wenn sie denn gezeigt werden, viel häufiger im Kontext von Beziehung und Partnerschaft vorkommen, ist das wirklich Erschreckende, dass es nur bis zu einem Alter von 30 Jahren ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis in besagten Medien gibt: Ab Mitte 30 kommen auf eine Frau zwei Männer und ab 50 kommen auf eine Frau sage und schreibe drei Männer – über alle Formate und Genres hinweg, also auch im Kinofilm.
Dass diese Abbildung mit unserem realen Alltag nichts zu tun hat, offenbaren die Zahlen eindeutig. Die gesellschaftliche Verantwortung, die Frauen an ihren Arbeitsplätzen, im Ehrenamt oder in der Familie ausüben, wird medial nicht abgebildet. Insbesondere die Lebenswirklichkeit von Frauen ab 40 wird nicht gezeigt. Ermutigende Vorbilder fehlen den Frauen damit ab ihrer Lebensmitte. Bascha Mika sagt dazu: „Genau dies ist die Zeit, in der Frauen zunehmend aus der Öffentlichkeit verschwinden. Es gibt tatsächlich nur eine Handvoll Frauen, die jenseits der 50 und 60 regelmäßig vor der Kamera auftauchen und die vor allen Dingen auch als erotische Wesen inszeniert werden.“
Dieses Missverhältnis beklagt auch Gerburg Jahnke und ergänzt: „Wenn ich aber als 85-Jährige nach Zürich fahren wollte, um mich umbringen zu lassen, dann käme meine Lebenswirklichkeit wieder vor. Oder wenn ich 25 wäre und mir überlege, ob ich mir eine dritte Brust basteln lasse. Dazwischen ist – auch in den Öffentlich-Rechtlichen – nichts von Belang. Das finde ich unverantwortlich.“
Diese Geschlechterverhältnisse in TV und Kino bezogen auf Alter und gesellschaftliche Funktion verfestigen hergebrachte Rollenklischees bei allen RezipientInnen und sind deshalb Gift für das Selbstvertrauen von Frauen. Reicht es aus, hiergegen individuell vorzugehen oder braucht es Quoten und Kampagnen? Werden wir uns langfristig dem Wertekodex der Leistungsgesellschaft entziehen und begreifen, dass Lebensglück, Talent und der Wert einer Person nichts mit Alter oder körperlichem Erscheinen zu tun haben? Und können wir vielleicht sogar darauf vertrauen, dass auch Männern dieses Frauenbild in naher Zukunft zu einseitig ist und sich deshalb für die Gleichstellung ins Zeug legen?
Einzelne Personen können sich gegen Rollenklischees erfolgreich auflehnen, ihre gesellschaftliche Wirksamkeit jedoch nicht eindämmen. Dennoch ist es interessant, individuelle Sichtweisen und Umgänge mit dem Thema Älterwerden als Kulturschaffende zu reflektieren.
„Das Alter ist kein fester Punkt. Der Punkt kommt, wenn wir tot sind. Bis dahin bedeutet Altern Veränderung, Voranschreiten. Am Leben sein und älter werden ist Gestaltungskraft.“ So beschreibt die bildende Künstlerin Ila Wingen das Phänomen des Älterwerdens – wäre da nicht „eine Gesellschaft, die Jugendlichkeit als eigenen Wert sieht und dabei ihre Angst vor Alter und Tod ausblenden möchte.“ Die absurde Konsequenz ist, dass gerade am Kunstmarkt das Neue übertrieben gehypet wird und mit dem Alter der Künstlerinnen und Künstler oftmals gleichgesetzt wird, Quereinstieg in mittleren Jahren nahezu ausgeschlossen.
Trotz dieses sehr wahren Einblicks in die vom Zeitgeist getriebenen Bewertungsmaßstäbe im Bereich der bildenden Kunst hält das Älterwerden für viele Kulturschaffende auch gute Seiten parat. Sie berichten von einem positiven Erfahrungsgewinn über die Jahre hinweg, der sie in schwierigen Situationen schützt. Die Choreographin und Regisseurin Sasha Waltz stellt fest: „Ich kann schneller entscheiden und habe einen größeren Überblick als noch mit Ende 30.“ Auch sei ihre Menschkenntnis eine ganz andere, die ihr nun hilft, Teams und Abläufe präziser zusammenzufügen.
Gerburg Jahnke genießt ihre Freiheit, weil ihr als erfahrener und beliebter Kabarettistin heute keiner mehr in die Programmgestaltung hineinredet. Den gut getimten Rückzug aus dem Comedy-Business einzuleiten, empfindet sie jedoch als „große Herausforderung“ bzw. als nicht wirklich planbares „Experiment“. Hiermit hat die über 80-jährige Bildhauerin Ursula Sax kein Problem, da sie immer noch zu Wettbewerben eingeladen wird. Sie ist nicht mehr so gnadenlos mit sich selbst wie früher und genießt den nachlassenden Druck, geht in der kreativen Arbeit aber immer noch ganz auf. Auf eine adäquate Würdigung ihres Lebenswerkes, das „natürlich“ auch den Verzicht auf Mutterschaft erforderte, wartet sie jedoch noch immer. Männer mit einem vergleichbaren Werk hätten längst Einzug in die Kunstgeschichte gehalten.
Eine gute Nachricht indes gibt es: Keine der Interviewpartnerinnen möchte noch einmal 30 oder 40 sein. Alle bewerten die Vorzüge des Alters für sich persönlich größer als die durchaus benennbaren Nachteile. Gleichzeitig stellen sie mehrheitlich fest – und hier schließt sich der Kreis –, dass unsere Gesellschaft konstruktiver und wertschätzender mit diesem Phänomen umgehen sollte, insbesondere im Tanz, der bildenden Kunst sowie in Film- und Fernsehen. Sofern diese Künstlerinnen mittels ihrer Arbeit Einfluss auf das „Doing Aging“ nehmen können, tun sie dies ganz bewusst.
1 Nachzulesen sind diese 8 Interviews im Dossier Älterwerden als Kulturschaffende; von 0 auf 100 des Deutschen Kulturrates.
Cornelie Kunkat ist Referentin für Frauen in Kultur & Medien beim Deutschen Kulturrat e.V. in Berlin.