… Narrative als Gegenpole zu gesellschaftlichen Fallen …

Buen Vivir im Gespräch mit Marcela Torres Heredia und Alexander Behr

Bildpunkt: Marcela, im Rahmen eines Vortrages an der Wiener Volkshochschule hast Du drei verschiedene Verwendungsweisen des Konzeptes Buen Vivir unterschieden: als indigene Praxis, als Verfassungsnorm und als intellektueller Diskurs. Wie spielen diese drei Dimensionen ineinander?

M.T.H.: Das Konzept des Buen Vivir sollte als polysemisches und umkämpftes Terrain verstanden werden. Das gute Leben wurde als theoretischer und politischer Horizont in den 1990er Jahren von indigenen Gruppen in Ecuador und Bolivien systematisiert und zu Beginn des 21. Jahrhunderts verbreitet. Darin kommen Ideen wie Leben in Fülle, verbunden mit Ansprüchen auf Autonomie und Wertschätzung für andere Lebensformen zum Ausdruck. Im Anschluss daran wurde es von urbanen Intellektuellen rezipiert und diente als eine Plattform zur Diskussion alternativer Konzepte, die aber auch darauf zielte, die Frage nach Entwicklung mit derjenigen nach ökonomischem Wachstum zu verknüpfen. Anschließend wurde das Konzept in den plurinationalen Verfassungen verankert und von progressiven Regierungen benutzt, dabei blieb die Spannung zwischen extraktivistischen und biozentrischen Konzepten präsent.

Bildpunkt: Alexander, in Deinem aktuellen Buch Globale Solidarität (München 2022) richtest du dich vor allem gegen die Ausbeutung von Menschen im globalen Süden durch Produktions- und Komsumstandards im Norden, also den Zusammenhang, den die Politikwissenschaftler Ulrich Brand und Markus Wissen „imperiale Lebensweise“ genannt haben. Spielt das Buen Vivir als Alternative dazu in deiner Herangehensweise eine Rolle?

A.B.: Ja absolut! Alberto Acosta, der frühere ­Präsident der verfassungsgebenden Versammlung Ecuadors, auf dessen Arbeiten ich mich unter anderem beziehe, hat das Konzept des Buen Vivir stark in sein Denken einbezogen. Daran anknüpfend habe ich in meinem Buch Globale Solidarität versucht, anhand konkreter Kampagnen politische Strategien und Netzwerke zu beschreiben, die auf ein gutes Leben für alle Menschen weltweit innerhalb der ökologischen Grenzen des Planeten abzielen. Ein Beispiel dafür ist Via Campesina, der weltweite Zusammenschluss von Kleinbäuer:innen, Landarbeiter:innen und Landlosen.

Bildpunkt: Wenn von Buen Vivir die Rede ist, geht es meistens zu Recht um Vorstellungen und Konzepte, die in indigenen Gemeinden in Mittel- und Südamerika entwickelt wurden und gelebt werden. Es stellt sich die Frage: Inwieweit sind solche Ideen und Praktiken auf die westlichen Gesellschaften übertragbar?

A.B.: Die Realitäten dieser Gesellschaften sind natürlich kaum vergleichbar, aber ich denke dennoch, dass sowohl im globalen Süden als auch im globalen Norden eine Reihe antikapitalistischer Kampfprinzipien angewandt werden sollten, die im Begriff Buen Vivir gebündelt werden. Ein Beispiel: Kämpfe gegen landgrabbing und industrielle Landwirtschaft und für ökologisch und sozial progressiv ausgerichtete ländliche Gebiete schützen nicht nur das Klima und die Biodiversität – es sind vielfach auch feministische Kämpfe gegen patriarchale Strukturen und für ein gutes Leben für alle.

M.T.H.: Das gute Leben als polysemes Konzept beinhaltet unterschiedliche Auffassungen und Interpretationen, die vom jeweiligen Kontext und der jeweiligen Geschichte beeinflusst werden. Selbst unter indigenen Gruppen kann das Konzept unterschiedlich interpretiert werden, obwohl es eine grundlegende Kritik am kapitalistischen Akkumulationsmodell und an den dualistischen und hierarchischen kolonialen Mechanismen der Beziehungen zwischen Menschen und Nichtmenschen enthält. Daher sollte man über Buen Vivir nicht bloß als Kopie und Nachahmung nachdenken, sondern vielmehr als konkretes und lokalisiertes Framing, dessen Bedeutungen und Strategien zu gerechteren Beziehungen zwischen verschiedenen Lebensformen in jedem Kontext neu entwickelt werden können.

Bildpunkt: Welche Rolle spielen denn Frauen in der praktischen und theoretischen Entwicklung von Buen Vivir und wie werden Geschlechterverhältnisse konzipiert?

M.T.H.: Feministische Ansätze stellen gemeinsam mit ökologischen und kapitalismuskritischen Perspektiven grundlegende analytische Instrumente sowie politische Strategien und Horizonte zu den aktuellen multiplen Krisen zur Verfügung. Ein harmonischeres Leben bedeutet auch die Suche nach Alternativen zu Ausbeutungsverhältnissen und den zugrundeliegenden hierarchisierenden Ideen von Lebensweisen, von denen einige als produktiv und wertvoll und andere als unproduktiv und nicht wertvoll eingestuft werden. Dieser Paradigmenwechsel steht in direktem Zusammenhang mit unseren Vorstellungen von Geschlechterverhältnissen.

A.B.: Als besonders wichtig erachte ich die feministische Kritik an Fortschrittsoptimismus und der Ideologie der Produktivkraftentwicklung. Hier sind Theoretikerinnen wie Silvia Federici wegweisend, aber auch Aktivistinnen wie Berta Cáceres aus Honduras oder Marielle Franco, feministische Stadträtin aus Rio de Janeiro. Cáceres und Franco haben ihren Einsatz für den Schutz der Biodiversität, des Klimas, für soziale Gerechtigkeit und gegen Rassismus sogar mit ihrem Leben bezahlt, was zeigt, wie wichtig es ist, Geschlechterverhältnisse und die Kritik an patriarchaler Gewalt in den Kämpfen für ein gutes Leben für alle an oberste Stelle zu setzen.

Bildpunkt: Neben dem Buen Vivir gibt es ja eine ganze Reihe anderer Konzepte, die versuchen, der Ressourcenverschwendung, dem Wachstumszwang, nicht zuletzt auch der Entfremdung und Ausbeutung kapitalistischer Produktionsweisen etwas entgegenzusetzen. Ökosozialismus wäre so ein Konzept, das von der ruangrupa lancierte lumbung ein anderes. Seht ihr gewinnbringende Verschränkungen?

A.B.: Bei allen konzeptionellen und strategischen Differenzen: Buen Vivir, lumbung, Post-Extraktivismus, Degrowth, Ökosozialismus und ähnliche Begriffe äußern sich letztlich zur gleichen globalen Realität. Aus ihnen lassen sich „aktivistische to-do’s“ ableiten, auf die ich in meinem Buch eingehe. So bremsen erfolgreiche Kämpfe für eine radikale Reduktion des Fleischkonsums in Europa die Abholzung des Amazonas-Regenwalds. Und der Kampf für eine umfassende Mobilitätswende kann ein wichtiges Element in der Zurückdrängung von zerstörerischem Lithium- oder Kobaltabbau in Ländern wie Bolivien oder der D.R. Kongo sein.

M.T.H.: Gegenwärtig sind wir auf der Suche nach Perspektiven von Transformation, die in der Lage sind, die Reproduktion von unterschiedlichen Lebensformen zu gewährleisten. Dafür sind Konzepte notwendig, die der Logik der Expansion des Kapitals Grenzen setzen. Deshalb sind Ideen wie die Interdependenz, die Stärkung der Horizonte der Kollektivierung, der wichtige Stellenwert der Fürsorge, der Schutz in (Neu-)Generierung von Commons unabdingbar. Diese Perspektiven dürfen jedoch nicht im konzeptionellen Bereich verbleiben, sie sind gewinnbringend, solange sie auf den Bereich der konkreten sozialen Erfahrung übertragen werden.

Bildpunkt: Was wären eurer Ansicht nach die dringlichsten – taktischen und strategischen – Schritte, die es hier in Westeuropa zu unternehmen gelte, um einem guten Leben für alle näher zu kommen?

M.T.H.: Strategisch ist es wichtig, Narrative zu entwerfen, die als Gegenpol zu diskursiven Fallen der gesellschaftlichen Kreativität fungieren können. Fallen, wie sie zum Beispiel in Szenarien von unausweichlichen Katastrophen oder Techno Utopien (Alternativen, die sich ausschließlich auf die Entwicklung von Technologien stützen), oder in der Verleugnung der sozialen Dringlichkeit von Veränderungen zum Ausdruck kommen. In taktischer Hinsicht ist es wichtig, dass wir unsere eigenen Fähigkeiten pflegen, um konkrete Wege zu generieren. Ausgehend von der lokalen Ebene, aber in Verbindung mit anderen Organisierungsprozessen mit gemeinsamen Horizonten.

A.B.: Nach der Niederschlagung der Bauernkriege im 16. Jahrhundert hieß es: „Geschlagen ziehen wir nach Haus, die Enkel fechten’s besser aus.“ Dieser Leitspruch hat nach wie vor seine Gültigkeit. Und dennoch sind die Voraussetzungen für soziale Bewegungen heute gänzlich andere. Denn die Umwelt- und Klimakrise droht, das Antlitz der Welt unwiederbringlich zu verändern. Deshalb müssen wir rasch, entschlossen, klug arbeitsteilig und radikal agieren. Besonders wichtig ist dabei, wie gesagt, mit denjenigen solidarisch zu sein, die in ihren Kämpfen am meisten riskieren, und das sind meist Aktivist:innen aus dem globalen Süden.


Marcela Torres Heredia ist Doktorandin und Stipendiatin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (DOC-team) am Institut Sozial- und Kulturanthropologie an der Universität Wien.

Alexander Behr ist Politikwissenschaftler und Aktivist in Wien und Nikitsch. Von ihm erschien kürzlich Globale Solidarität. Wie wir die imperiale Lebensweise überwinden und die sozial-ökologische Transformation umsetzen können (München 2022, oekom Verlag).

Das Gespräch wurde im Oktober/ November 2022 von Sophie Schasiepen und Jens Kastner per E-Mail geführt.